Marathon Jahrbuch 2016 Ultra Trail Atlas Toubcal 78 großen, staunenden Kinderaugen. Nach dem ersten VP warten ca. 1.200 Höhenmeter darauf, auf ca. 8 km steil erklommen zu werden. Die Erlösung auf über 3.100 m – unglaubliche Aussicht, unendliche Weite. Die Marathonzeit ist schon lange Makulatur. Und wer sich etwas ausgerechnet hat, dem wird spätes- tens hier klar: Meine Zeit ist mir egal. Ich möchte das hier nur lange erleben dürfen. Ein deutsches Ehepaar geht zusammen die Challenge hier an. Ab hier werden gemeinsame Erlebnisse ins Gehirn einge- brannt und gegenseitig Tränen getrock- net. Das ist es, wovon ich schwärme. Le- bensfreude beim Laufen finden. Grenzen ausloten und doch noch Kraft haben, die Eindrücke zu genießen. Die Entschleuni- gung ist auf dem Höhepunkt. Über VP 2 bei km 32 und 600 m Downhill geht’s zum Schlussakkord auf den finalen Pass auf ca. 3.000 m bei km 37. Ein Blick über die Schulter zeigt nochmals den gigantischen Hohen Atlas und das Dorf Imlil. Eine Impression jagt die andere. Kartoffeln und Cola Der Weg wird zäh, die Luft wieder dünner, die Sonne heißer. Km 49,5 auf ca. 2.300 m mit gleichzeitiger Cut-off- Barriere wartet. Idyllisch, unglaublich beeindruckend, der tosende Bachlauf lädt zum Verweilen ein. Zu schön, um wahr zu sein. Der Kontrollpunkt liegt autonom im Irgendwo und wurde einen Tag vorher mit einigen Maultieren, 5 Berbern und 3 Franzosen eingerichtet. Halbzeit und der Spaß fängt nun erst richtig an. Ich fühle mich stark, absolut präsent, gleichzeitig habe ich aber auch den Wunsch, etwas ganz anderes zu machen. Irgendwo rasten, die Läufer beobachten, diese wunderbare Gegend anschauen, die Zeit Zeit sein lassen. Ich bin alleine. Ein Blick auf die Uhr bringt mich doch wieder in den Wettkampf und in die Re- chenspiele: In zwei Std. wird es dunkel, es kommen 12 Std. Laufen in der Nacht, es wird frisch. Also Tempo erhöhen, mehr Risiko auf den Downhill, keine Pausen. Eine halbe Stunde vor Beginn der Dämmerung erreiche ich VP 2 bei km 68. Endlich Handfestes: gekochte Kartoffeln, zwei Teller Nudelsuppe, Cola, ein paar getrocknete Aprikosen und Rosinen gar- niert mit Salztabletten. Beinlinge, Arm- linge und Mütze mit Lampe anziehen. Das Abendprogramm in den nächsten 6 Std. besteht aus 6 km Aufstieg von 2.600 m auf 3.100 m, Downhill, 5 km Aufstieg von 2.800 m auf über 3.600 m, Downhill auf einer Länge von ca. 3 km und mit ei- nem Höhenverlust von sage und schreibe ca. 1.600 m. Dieser Downhill ist wirklich etwas Beeindruckendes, nach immerhin ca. 18 Laufstunden und zur besten Zeit um Mitternacht. Lichterketten Der folgende Weg nach Imlil ist zermürbend, weil es nie eben ist. Extrem staubig und ruppig geht’s weiter. VP 3 er- reiche ich gegen 2 Uhr nachts. Trockene Nudeln und Salz mit Sprite runtergespült, herrlich. 10 Min. Pause. Das Ziel ist verhältnismäßig nah, die Luft ist wärmer geworden, aber es liegt noch ein mental schwieriges Stück vor mir. Auf und ab, immer wieder, ca. 1.600 Höhenmeter verteilt auf die restlichen 17 km, tief in der Nacht, Dreck und Gestank durch die Randbezirke von Imlil, die Schönheit der Umgebung wird durch die Nacht ge- schluckt. Ich ziehe hinter den vereinzel- ten Lampen auf den Serpentinen weiter. Wie können 500 Höhenmeter so irrsinnig lang werden? Weiter, weiter, ich will nun aufhören. Irgendwas stört mich, irgendwas will nicht mehr. Weiter, ich muss ins Ziel. Km 98, die nette Dame sagt, es sind nur noch 7 km und ca. 1.000 Höhenmeter. „You ➜