„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Es geht jetzt nicht darum zu eruieren, ob Michail Gorbatschew den Satz wirklich in dieser Form gesagt hat. Und wer zu spät kommt, wird nicht immer gleich so drastisch bestraft. Aber jeder von uns, der während seiner Schulzeit einmal nach dem Glockenklang eingetrudelt ist, weiß, dass eine Verspätung fast immer mit einem Nachteil verbunden ist. Richtig, fast immer. Keine Regel ohne Ausnahme. Zu einem Erdbeben komme ich zum Beispiel gerne zu spät.
Sich spät für den Untertage Sparkassen Marathon in Sondershausen anmelden zu wollen hat zur Folge, dass man keinen der 400 begehrten Startplätze ergattern kann. Das trifft sich insofern günstig, als zu diesem Zeitpunkt auch nur mit Schwierigkeiten noch eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden ist. Sondershausens Gästebetten sind von den Stammgästen des Marathons in Beschlag genommen und die Erfurter Hotellerie ist bis unters Dach mit Weihnachtsmarktbesuchern mit Glühweinfahne gefüllt.
Meine Bitte an den Chefredakteur nach Erteilung des Auftrags für eine Berichterstattung auf marathonistisch gesehen vermutlich tiefst möglichem Niveau und die anschließende Hotelbuchung erfolgte deshalb schon im Sommer. Also zu dem Zeitpunkt, zu welchem ich eins zu eins spüren konnte, welche Temperatur mich an diesem ersten Samstag im Dezember beim Laufen umgeben wird.
Die lange Anreise in den Kyffhäuserkreis unternehme ich nicht alleine. Angetan von den letztjährigen Bildern, begleitet mich mein Vater, um erstmals ein Bergwerk zu besuchen. Das gesamte Besuchsprogramm in Thüringen müssen wir auf wenige Punkte beschränken, weshalb wir der Musikstadt Sondershausen selbst keinen richtigen Besuch abstatten. Auf unserer Anfahrt von Erfurt her lassen wir die Residenzstadt aber nicht gänzlich rechts liegen. Einen kleinen Abstecher dorthin, wo man früher gemeinhin in der Stadt ankam, machen wir. Eines der ersten Kaliwerke Deutschlands wurde vor gut hundert Jahren gewissermaßen als Visitenkarte nach den Gestaltungsprinzipien des Jugendstils gleich neben dem Bahnhof gebaut. Es war der Wunsch des Fürsten, dass das Gerüst des Förderturms nicht nur funktionell sei, sondern eine dem Zeitgeist entsprechende Ästhetik erhalte. Heute zählt der von der Gestaltung des Eifelturms inspirierte Förderturm des Petersenschachts nebst dem Residenzschloss zu den Wahrzeichen Sondershausens. Seinen Namen trägt er zu Ehren des fürstlich-schwarzburgischen Staatsministers Petersen, auf dessen Initiative hin dieser Schacht entstand.
Wer, wie ich, in einem mit Bodenschätzen ärmlich ausgestatteten Land groß wurde und deshalb mit der Tradition des Bergbaus nicht vertraut ist, muss erst noch eine Fremdsprache erlernen, bevor er sich sicher in der Welt der Bergleute bewegen kann. Für die Teilnahme am Untertage Marathon ist das Beherrschen des fachlichen Vokabulars aber nicht Voraussetzung. Man muss kein Steiger sein, um teilnehmen zu dürfen. Auch ein Steiner darf.
Verständigungsschwierigkeiten gibt es keine. Während ich meine Startnummer und den Chip abhole, löst mein Vater einen Besucherschein und eine Fotogenehmigung; beides ist in kürzester Zeit erledigt.
Nachher geht es ans Umziehen. Allein schon der Besuch dessen, was an anderen Orten Garderobe genannt wird, ist für den bergmännisch unbedarften Läufer ein Erlebnis. Die Kaue – genau genommen handelt es sich um eine Waschkaue – ist unterteilt. In der Weißkaue wird die private Kleidung abgelegt und dort gelassen, dann geht der Bergmann nackt zur Schwarzkaue und zieht die Arbeitskleidung an. Die Kleidung wird in einen Korb gelegt und an einer Kette mehrere Meter bis unter die Decke gezogen.
Draußen ist es zwar recht windig, doch die Temperatur bewegt sich im oberen einstelligen Bereich. Deshalb muss ich mich nicht sonderlich warm einpacken, um die Einfahrt in den Schacht abzuwarten. Die Länge der Warteschlange täuscht. Es dauert gar nicht lange und wir betreten den Förderkorb. Geschätzte zwei Minuten Rütteln, Rumpeln, Knacken und Poltern im Schein einer Deckenlampe in der Größe einer Fahrradfunzel, dann wird die Plastikplane geöffnet und wir schreiten in 700 Metern Tiefe in einen großen Stollen hinein. Dessen Ausmaß wird durch den aufblasbaren Startbogen mit Willkommensgruß deutlich. Platzangst braucht da niemand zu haben. Das diesbezügliche Nadelöhr ist allenfalls das Einfahren im Förderkorb.
Obwohl ich schon das zweite Mal hier bin, ist es ein überwältigender Moment, in diese Welt einzutauchen. Nur gerade in der Nähe des Schachts nach oben ist es etwas kühl, etwas davon entfernt ist die Luft angenehm sommerlich temperiert. Welch ein Unterschied gegenüber den zu dieser Jahreszeit üblichen äußeren Bedingungen bei meinen abendlichen Laufrunden.
In einem Nebenarm des Haupttunnels deponiere ich auf einem der Festbänke Jacke und lange Hose und bin damit schon für den Start bereit. Nebenan trifft nach ebenfalls langer Anreise gerade eine Delegation des Laufsportvereins Basel ein, welche in Begleitung einer Journalistin angereist ist und zum Angriff auf Podestplätze in den Alterskategorien bläst.
Ich frage mich, woran es liegt, dass mir im Vergleich zu letztem Jahr alles eine Stufe ruhiger vorkommt. Obwohl die Anzahl Startender sich im üblichen Rahmen bewegt und ich nicht der einzige bin, der in Begleitung eingefahren ist, habe ich subjektiv den Eindruck, dass weniger Leute zugegen sind. Daran, dass die Bergmannskapelle heute am Aufspielen verhindert ist, kann es wohl nicht liegen. Ich vermute, dass es daran liegt, dass ich vor einem Jahr einfach aufgeregter war. Wie reagiert mein Körper in dieser trockenen, warmen Luft? Wie geht mein Kopf mit dem Gefühl um, in den teilweise nur schwach beleuchtenden Gängen so tief im Erdreich eingeschlossen Runde um Runde zu drehen? Diese Erfahrungen habe ich bereits gemacht, es bleibt nur die übliche Unbekannte, die Tagesform, deshalb kann ich es ruhig nehmen.
Hinter die Startlinie schaffe ich es gar nicht. Zwischen der ersten Reihe und dem großen Gong, auf welchem das Startsignal gegeben wird, positioniere ich mich am Rand und versuche, mit der Kamera ein paar Startimpressionen einzufangen. Ungeduldig verschwindet die Spitze hinter der Biegung. Mal schauen, wie lange es dauert, bis ihre Schuhsohlen wieder vor meinen Augen auftauchen.
Am Schluss des Feldes mache ich mich auf den Weg in die Unterwelt. Was sich da gleich vor mir auftut hat weniger mit der Vorstellung von Hades zu tun: Ein paar hübsche, filigrane Flügel aus feinen, leuchtend weißen Federchen. In der hintersten Reihe nicht gerade ein Senkrechtstarter, aber ein vorweihnachtlicher Engel. Seine Wirkung wird durch die Tiefe, in welcher er sich bewegt, zusätzlich verstärkt.
Gleich hinter der ersten Kurve nach dem Start ist einer der beiden Verpflegungsposten aufgebaut. Weil der Schluss des Feldes noch nicht richtig loslaufen kann, genehmige ich mir in Ruhe gleich einen ersten Becher Wasser. Vorbeugen ist besser als Dehydrieren. Mit dem Loslaufen ist es sowieso so eine Sache, denn es dauert nicht lange, da steigt die Strecke spürbar an. Vom vergangenen Jahr weiß ich, dass das Laufen zu Beginn noch möglich ist, die Steigung dafür mit jeder Runde umso gnadenloser in die Beine fährt, also sehe ich von sportlichen Supertaten ab und nehme es gemütlich.