Sicherlich war dieser Lauf für mich geprägt von einem pochendem Herzen, Schmetterlingen im Bauch, emotionellen Highlights und abschließender, wohliger Mattigkeit. Auf erotische Sequenzen wird man die folgenden Seiten aber wohl vergeblich durchforsten.
Für mich war dieser Lauf nicht die erste Großveranstaltung, wohl aber der erste Marathon und damit, um letztmalig bei der Einleitung zu bleiben, sozusagen eine Defloration.
Das, was sich bereits am Tag vor dem Marathon in diversen Wettervorhersagen angedroht hatte, blieb uns bereits bei der Anreise nicht erspart. Wir - das waren meine Frau und meine jüngste Tochter, die ich kurzerhand als Fans zwangsverpflichtet hatte – starteten bei strahlendem Sonnenschein in Richtung Norden. Kurz vor Köln prasselte dann schon die erste Regenfront auf unser Auto herab und bereitete uns einen Vorgeschmack auf die kommenden Stunden. Dank eines Arbeitskollegen konnten wir unseren Wagen in unmittelbarer Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofes abstellen. Hierfür – und auch für deine nette, zurückhaltende Art – einfach mal ein öffentliches „Danke“ lieber Spike. Du hast uns unsere Nervosität bestimmt an der Nasenspitze angesehen, nicht wahr?
Denn nervös waren wir, meine Kleinste als Teilnehmerin des Mini-Marathon, meine Frau weil ihr Nesthäkchen alleine durch Düsseldorf eilen sollte und ich weil, tja, mmmhh. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Hatte ich alles richtig gemacht? Mich eng genug an den Trainings- plan gehalten? Zum vielleicht zehnten Mal wandert mein Blick auf meinen rechten Fuß. Beruhigt stelle ich fest, dass der Zeitmess-Chip noch da ist. Aber die Gel-Chips für unterwegs...schnell noch einmal kontrollieren, ob ich die Gel-Chips wirklich nicht vergessen habe.
Irgendwann klettern wir aus der U-Bahn und folgen den vielen Anderen, die gleich mir mit Laufutensilien versehen, in eine Richtung strömen.
Wie im Flug vergeht die Zeit bis zum Start der Mini-Marathonis. Eine gute Idee des Veranstalters. Die zurückzulegende Strecke beträgt vom Start des Original-Marathon aus 4,2 km und endet in der Nähe des Original-Zieleinlaufes. Mit einer Mischung aus Stolz und Restzweifel sehe ich meine 10-jährige Tochter in der Menge der überwiegend erwachsenen Starter verschwinden.
Als sie knappe 20 Minuten später um die Ecke herum locker ins Ziel trabt, ist es für mich an der Zeit, mich zu verabschieden. Noch einen schnellen Glückwunsch ans Töchterchen, deren Proteste - „Was, die haben keine Zeit gemessen? Woher wollen die jetzt wissen, welchen Platz ich gemacht habe?“ - ich ignoriere und mich Richtung Kleiderbeuteldepot verdrücke.
Jetzt wird es für mich ernst. Letztmalig habe ich die Möglichkeit, meine Laufkleidung zu variieren. Ein schneller Blick in die Runde der fleißig Kleider wechselnden Mitläufer hilft mir auch nicht wirklich weiter. Eine bunte Mischung aus unten lang – oben lang und Mini-Shirt mit Mini-Hose prägen das Bild. Schulterzuckend entscheide ich mich dann für eine lange Laufhose mit offenen Beinreißverschlüssen, mein Marathon4you-Shirt und darüber eine leichte Regenjacke.
Bei der Abgabe des Kleiderbeutels auf dem offenen Platz höre ich meinen Nebenmann fragen, ob das Zeltdach über den Beuteln bei Regen auch wirklich geschlossen würde. Die lässige bejahende Antwort hätte er sich besser schriftlich geben lassen. Aber davon später mehr.
Da in Düsseldorf Start und Ziel etwa 600 Meter auseinander liegen, nutze ich die Distanz, um mich ein wenig warmzulaufen. Überall um mich herum ist emsiges Treiben und letztes Verabschieden. Ich bin so nervös, dass ich nochmals zu den hier reichlich vorhandenen Toilettenhäuschen aufbreche.
Die Startaufstellung ist auch hier mit Farbcodes geregelt. Leider interessiert sich niemand so richtig dafür, wer sich wo hinstellt. So kommt es, dass ich mich recht willkürlich irgendwo am Beginn des hinteren Drittels platziere.
Noch 10 Minuten bis zum Start. In mir macht sich das Gefühl breit, nicht hier hin zu gehören. Die anderen, ja, die dürfen hier sein. Das sind Marathonläufer. Aber ich doch nicht. Ich habe doch bloß ein paar läppische Halbmarathonwettkämpfe hinter mir. Mich schmückt kein Finisher-Shirt des „Steinfurt-Marathon“ oder des „Maratona di Roma“. Andererseits habe ich lange Wochen ausgiebig trainiert. Und schließlich haben die anderen um mich herum auch irgendwann mal angefangen. Je näher der Start rückt, desto ruhiger werde ich. Ich erklimme eine Verkehrsinsel und schaue mich betont lässig um. Perfekt! Ich stehe genau zwischen den Luftballons von zwei Pacemakern. Vor mir muss der 4- Stunden-Hase sein und hinter mir demnach der Läufer für 4:30. Genauso habe ich mir das vorgestellt. Ich lasse den 4-Stunden-Hasen vor mir loslaufen, schließe dann gaaaaaanz langsam auf, überhole ihn, und wenn es dann irgendwann bitter werden sollte, hänge ich mich notfalls noch mal an ihn dran um in einem furiosen Endspurt nochmals Distanz zu ihm zu schaffen. Genau. So funktioniert das bestimmt. Locker! Wäre doch gelacht.
Als sich das Feld in Bewegung setzt, lasse ich den Pacemaker vor mir getrost noch ein wenig von mir weglaufen, bis unversehens der nächste Hase schon bei mir ist. Während ich noch verdutzt auf den Rücken dieses Luftballonträgers schaue, formt sich in meinem Kopf langsam die Aufschrift des Rückens zum klaren Gedanken: 05:00! Ich habe einen Hasen vor mir, der 5 Stunden als Zeitziel hat! Ich wusste gar nicht, dass es einen 5-Stunden-Läufer gibt. In mir gehen alle Warnlampen an. Hektisch geht der Blick von meiner Verkehrsinsel aus nach vorne. Dahinten, fast schon am Horizont will mir scheinen, entfernt sich der nächste Pacemaker mit affenartiger Geschwindigkeit.
Verdammter Mist – jetzt habe ich mich viel zu weit hinten eingeordnet. Einem Lauffreund ist vor drei Jahren beim Köln-Marathon ähnliches passiert. Manfred ist damals nahezu zwei Stunden im Zickzack um andere Leute herumgelaufen, bis er wieder im Plan war und sein Tempo in Ruhe laufen konnte.
Je näher ich dem Startbogen komme, desto mehr nimmt mich immer lauter aufbrandende Musik in Bann. Die Düsseldorfer Symphoniker geben live einigen ihrer Arbeitskollegen einen musikalischen Gruß mit auf die Reise. Mächtig umschwirren mich die Klänge der Rheinischen Symphonie“ und senden mich hinaus auf die Laufstrecke. Noch viele hundert Meter habe ich die Musik in mir.
Unversehend werde ich beim Abbiegen in eine Straße aus meinen Gedanken gerissen. Das hätte jetzt gefehlt! Ich bin auf einer nassen Straßenbahnschiene ausgeglitten und konnte mich nur durch einen jähen Spreizschritt vor dem Überschlag retten. Ein kurzer Blick nach innen überzeugt mich, dass bei dieser Turneinlage alles heil geblieben ist. Gleichzeitig habe ich gelernt, dass ich auch auf einer abgesperrten Strecke unter hunderten von Läufern aufmerksam bleiben muss und nicht vor mich hin träumen darf.
Auf den nächsten Kilometern vergeht die Zeit wie im Flug. Nach dem obligatorischen Gedrängel am Streckenbeginn fehlen mir nach dem ersten Kilometer 25 Sekunden in meinem Zeitplan. Ich lasse mir fast 7 Kilometer Zeit, um wieder in meinen Plan zu kommen. Kurze Zeit später überhole ich sogar schon den 04:30-Läufer mit seinem dichten Gefolge.
Zwischenzeitlich habe ich meine Regenjacke zum ersten Mal für heute umgebunden. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel; Die Stimmung innerhalb des Läuferfeldes bessert sich von Minute zu Minute. Die hauptsächlich um die Verpflegungsstationen versammelten Zuschauer setzen sich nicht mehr ausschließlich aus Begleitern der Läufer zusammen. Erstmals höre ich, wie mein Name gerufen wird. Mein Name? Woher wissen die da vorn denn meinen Spitznamen? Langsam dämmert mir, dass mein Spitzname in großen Lettern auf meiner Brust prangt. Ich stelle fest, dass es Spaß macht, von ganz Unbekannten angefeuert zu werden.
Kurz vor dem Halbmarathon hat sich ein Mann in der Prinz-Georg-Straße auf einem Stuhl unmittelbar neben der Laufstrecke platziert. Lautstark und gekonnt spielt er alleine auf seiner Trompete, wird von den vorbei eilenden Läufern bejubelt und strahlt über das ganze Gesicht. Eine wunderbare Symbiose. Hier profitiert einer vom anderen und hat Spaß daran.
Überhaupt. Halbmarathon. Ich liege perfekt in der Zeit. Die anvisierten vier Stunden sind gar kein Problem. Laut Plan muss ich mein Tempo jetzt nur noch bis Kilometer 28 halten, dann kann ich pro Kilometer 5 Sekunden verlangsamen und komme mit reichlich Reserve ins Ziel. Lästig ist nur das andauernde An- und Ausziehen der Regenjacke. Strahlender Sonnenschein wechselt abrupt mit Regenschauern und eiskalten Windböen. Striptease-Run. Irgendwo bei Kilometer 26 oder 27 treffen mich kurze Zeit sogar kleine Hagelkörner. Oben auf der Rheinknie- brücke bin ich froh, meine Jacke anzuhaben. Hier oben im ungeschützten Bereich vor Kilometer 29 treffen mich Wind und Regen mit voller Wucht. Tief unter mir am Mannesmannufer sehe ich einzelne Läufer und das Ziel. Der Läufer mit rotem Shirt wird eine Zielzeit von etwa 2:40 haben. Ich beneide ihn darum, dass er gleich im Trocknen sein wird. Ich habe noch fast 1:20 vor mir, bin klatschnass und durchgefroren. Vor mir ist ein Läufer in kurzer Hose und Netzhemd unterwegs. Wie mag er sich fühlen?
So langsam wird es schwer. Ich laufe auf Kilometer 31 zu. Dort bin ich nochmals mit meiner Frau verabredet. Ich werde ihre Anfeuerungsrufe und das begeisterte Gesicht meiner Tochter brauchen können. Ich freue mich auf beide. Aus dem Ansatz meiner Wirbelsäule kriecht langsam aber unübersehbar ein strahlender Schmerz hervor. Ich kann mein Tempo nicht mehr halten. Meine Beckenknochen scheinen sich zu weiten, ich habe das Gefühl, dass mein Hüftumfang langsam aber stetig immer weiter anwächst. Es tut weh.
Raus aus der Regenjacke. Der strahlende Sonnenschein tut meinen Gliedern gut. Ich stelle mir vor wie es wäre, auf der grünen Wiese hier am Rheinufer kurz vor Kilometer 34 zu liegen und den Schiffen zuzusehen, wie sie langsam und bedächtig den Rhein hinauf und hinunter gleiten.
Der erste meiner Gel-Chips ist fällig. Langsam und genüsslich zerrupfe ich ihn in kleine Teile, lasse sie im Mund zergehen und spüre, wie die Energie sich in mir verteilt. Eine Pulskontrolle verrät mir, dass ich noch lange nicht an meiner Leistungsgrenze bin. Trotzdem. Ich bin todmüde. Zerschlagen. Habe Schmerzen im Rücken, an der Hüfte. Ich bin noch nie in meinem Leben so lange gelaufen wie bisher. Und ich habe noch mehr als 7 Kilometer vor mir.
In der Löricker Straße ist eine Verpflegungszone aufgebaut. Ich nehme mir ein isotonisches Getränk und alle Zeit der Welt, um es gehend zu trinken. Dass Gehen so schön sein kann. Es ist so verlockend, einfach weiterzugehen. Du bist gehend in nur 90 Minuten im Ziel. Lange Zeit, bevor der letzte Läufer reinkommt. Auf der Kö und kurz vor dem Zieleinlauf könnte ich ja noch ein wenig traben, um den Schein zu wahren. Tausend kleine Teufel spuken in meinem Kopf herum.
An der Ecke Löriker Straße/Hansaallee wird mein Lauf unterbrochen. Mein rechter Schuh spannt fürchterlich. Um Abhilfe zu schaffen, steuere ich eine Bushaltestelle an, lasse mich auf der Bank nieder, lockere den Schuhriemen und möchte loslaufen. Ich kann nicht! Ich komme von dieser verdammten Bank nicht mehr hoch. Nur mit äußerster Willensanstrengung gelingt es mir, wieder auf die Füße zu kommen. Anschließend verfalle ich fast automatisch wieder in meinen gewohnten Trab.
Auf dem Weg durch Oberkassel hat sich langsam aber sicher vor mir über der Düsseldorfer Skyline eine eklig grau-gelbe Wand zusammengebraut. Ich vertraue meinen Augen nicht, als ich darin einen Blitz aufflackern sehe. Kurze Zeit später schrecke ich zusammen, als es hinter meinem Rücken donnert. Ich blicke zurück und sehe eine riesige schwarze Wand langsam und bedrohlich auf mich zukommen. Hoffentlich geht das gut. Die Gedanken an das näher kommende Unwetter lenken mich einige Zeit von den Schmerzen ab. Ich versuche einen weiteren Gel-Chip zu essen und bekomme die verdammte Plastikhülle erst nach mehreren Anläufen aufgerissen.
Für die Lueg-Allee und den Aufstieg zur Oberkassler Brücke sind eine Sambaband und „Alp d' Huez“-Feeling angekündigt. Ich könnte beides jetzt durchgehend bis zum Ziel brauchen und freue mich schon auf die zusätzliche Motivation von außen, als erste Windstöße auf meinen Rücken treffen. Schnell wieder in die Regenjacke, als auch schon der Regen in immer größeren Tropfen fällt. Und wie es regnet. Meine Brille ist blitzschnell vollkommen eingenässt, meine Sicht ist verschwommen. Irgendwo aus einem Unterstand heraus meine ich Reste einer Sambamelodie zu vernehmen. Auf der Brückenrampe steht ein einsames Schicki-Micki-Ehepaar ganz in Leder eng unter einem Schirm zusammengekuschelt und feuert unverdrossen die Läufer an. Welch ein Event!
Zwischenzeitlich hat der Regen aufgehört und ist mitten auf der Brücke durch Hagelkörner ersetzt worden. Der Wind zerstreut mein Stöhnen, zum Fluchen habe ich keine Kraft mehr. Noch 3 Kilometer.
Am Ende der Brücke hat das Unwetter sich ausgetobt. Mit schmerzender Wirbelsäule laufe ich die Rampe herunter und hoffe, dass kein weiteres Gefälle mehr auf mich wartet. Steigungen ja, bitte, gerne! Aber hoffentlich nicht mehr bergab. Das geht fürchterlich ins Kreuz.
Die nächsten Kilometer laufe ich wie in Trance. Über einem Schaufenster steht “Armani“. Demnach bin ich wohl auf der weltberühmten Kö. Von mir aus. Das ist mir so was von egal. Schemenhaft realisiere ich die Zuschauer am Straßenrand. Sie stehen jetzt kurz vor dem Ziel in immer engeren Reihen, klatschen, rufen, schlagen auf Trommeln, blasen auf Jagdhörnern – und tragen mich damit näher zu meinem Ziel.
Überhaupt. Das Ziel. Der Gedanke daran beherrscht mich jetzt vollkommen. Ich erinnere mich an den Läufer im roten Shirt, der vor unendlich langer Zeit durch dieses Ziel gelaufen ist, während ich ihm oben von der Rheinkniebrücke aus zusah. Ich male mir aus, wie es sein wird, um die Ecke am Apollo-Platz zu biegen und das Ziel sehen zu können. Ich laufe, überhole, werde überholt und garniere mir das Ziel wie ein Zuckerbäcker eine Hochzeitstorte.
Irgendwo schleicht sich der Gedanke ein, dass ich kurz vor dem Ziel wieder bergab zum Rhein- ufer laufen muss. Es ist mir egal. Ich will in dieses Ziel. Und ich will und werde in dieses Ziel laufen. Und ich laufe und ich laufe und ich laufe und unverhofft sehe ich links das Apollo-Theater an mir vorbeigleiten. Noch 500 Meter. Noch vor dem Zielbogen reiße ich die Arme in die Höhe. Ich bin drin. Ich habe es geschafft.
Nach erstaunlich kurzer Erholungszeit und einem Getränk mache ich mich daran, den ange- kündigten „luxuriösesten Zielbereich Deutschlands“ zu erkunden. Ich werde maßlos enttäuscht, hab ich doch schon bei erheblich kleineren Volksläufen wesentlich besser und vor allen Dingen
liebevoller ausgestaltete Bereiche gesehen. Hier sollten die Düsseldorfer vielleicht doch einmal Nachhilfe in Köln nehmen oder etwas Beistand aus Bonn erbitten.
Meinen Kleiderbeutel bekomme ich ebenso wie die anderen Läufer nass zurück, da die vollmundig angekündigte automatische Überdachung wohl nicht so ganz funktioniert hat. Nachdem ich ein Umkleidezelt vergeblich gesucht habe, reicht mir ein kurzer Blick auf das Duschzelt, um vom Duschen Abstand zu nehmen. Stinkend, frierend und durchnässt schaue ich kurz anderen Läufern zu, die sich auf der zugigen Rheinpromenade auf nassem Asphalt stehend umziehen.
Ein Anruf bei meiner Frau bringt mir die Gewissheit, dass sie wie verabredet in einer Gaststätte auf mich wartet. Dort ziehe ich mich auf der Toilette um und wasche mir den Schweiß aus dem Gesicht.
Abschließend möchte ich noch anmerken, das ein großes Glas Altbier nach einem Marathon ebenso gut schmecken kann wie ein Kölsch nach einem Halbmarathon. Ich denke, ich werde nächstes Jahr wieder ein großes Altbier trinken.