Wer an diesem Sonntag beim Blick aus dem Fenster wieder unter die Bettdecke kriecht, anstatt seine Laufsachen anzuziehen, verpasst einen wunderschönen Winterlauf.
“Auch zum Marathon?” fragt mich der Fährmann, der das Schneeschippen unterbricht, um den Fahrpreis zu kassieren. “Sind schon viele Läufer rüber?”
“ Einer!” Den hat er gleich übergesetzt. Auch für mich macht er eine Extra-Fahrt. “Service am Kunden, gerade jetzt im Winter”. Eigentlich braucht er sieben Fahrgast-Autos, um den Diesel für eine Überfahrt zu bezahlen.
Die Überfahrt von Mehlem nach Königswinter und die damit verbundene Nervosität, ob und wann der Fährmann mich hinauflässt, gehört für mich zum Siebengebirgsmarathon einfach dazu. Auch die Fahrt durch Bad Honnef und anschließend durch das Schmelztal, wo nicht nur Anton geblitzt wird. Das Schmelztal hat seinen Namen nicht daher, dass hier gut gestreut wird. Wer aufmerksam schaut, erkennt die großen Schlackehalden, die unsere Vorfahren durch die Schmelze der reichen Erzvorkommen hinterlassen haben.
Erzvorkommen haben Aegidienberg, dem Ausgangspunkt des Marathons, reich gemacht. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts transportierten Pferdebahnen parallel zur Straße das Material durchs Schmelztal weiter bis Bad Honnef.
Die Halle in Aegidenberg ist leer, die Halbmarathonis sind schon gestartet, und erst allmählich treffen die Hardcore-Runner ein. Vier Stunden aus Stuttgart nahmen Eberhard und Angelika auf sich, Sylvia drei Stunden aus Osnabrück.
“Ho-ho-ho, da kommt der Joe!” Die Überschrift meines ersten Laufberichtes bei m4y vor genau 4 Jahren stammt nicht aus meinem PC. Die hatte sich Klaus ausgedacht in weiser Voraussicht, was auf Euch zukommt. Noch ein Jubiläum: Es ist mein 50ter Marathon - in diesem Jahr. Nichts Besonderes, Sylvia läuft ihren 96ten- auch in diesem Jahr.
Réné läuft nach 8 Wochen verletzungsbedingter Pause ohne vorheriges Training, auch Angela machte 8 Wochen Pause, was die Theorie bestätigt, dass sich Ehepaare alsbald angleichen.
Die Aegidienberger, also die Pferde, die hier im Sportzentrum gezüchtet werden, sind eine Unterart der Islandpferde und haben statt drei Gangarten deren vier, manchmal fünf. Man nennt das tölten, eine Gangart bei der das Pferd die Knie bedeutend höher hebt.
Manche Läufer drücken sich wärmesuchend in den Ställen herum, andere gruppieren sich in kleinen Familienverbänden, ganz wie die verschneiten Rösser. Die werden allerdings gerade gestriegelt und gefüttert.
Namensvetter Joe fällt in seinen kurzen Hosen auf, auch Martin Skalsky. Er wird heute fast doppelt so schnell laufen wie ich. Aber wir alle müssen heute tölten, denn der Schnee lässt keine andere Gangart zu.
Einige Läufer haben sich für Yak Trecks entschieden. Ich nehme das Modell, das auch wüsten- und tropentauglich ist und kann damit auf der Hauptstraße das „Klack-Knirsch“ der Schneekettenträger schnell hinter mir lassen.
Der Schnee auf den Waldwegen ist trocken und griffig, knirscht bei jedem Schritt. Allerdings bremsen mich die schneebedeckten Äste, denn praktisch jeder Ast ist heute Morgen ein Foto wert, während die graue Kette der sieben Berge im Schneetreiben kaum sichtbar ist.
Der Lohrberg ist gefühlsmäßig schnell umrundet, weil die Winterlandschaft zum Träumen anregt. Dann geht es vorbei an der Wehrhütte mit der Frühmesseiche. Vermutlich wurden hier schon frühzeitig Messen gelesen, um den “Feurigen Mann” zu besänftigen, der Sage nach ein böser Gutsverwalter, der von einem Drachen in Brand gesteckt wurde und seither keine Ruhe findet.
Der Aufstieg zur Löwenburg wird mit heißem Tee belohnt. Hier kommt uns schon Martin Skalsky entgegen. Erst viel später folgt das Verfolgerfeld, aus dem Tal der Magarethenhöhe kommend. Wir, die Wintergenießer, steigen weiter aufwärts und genießen erst mal den Blick über die Kölner Bucht mit der Drachenburg und dem Drachenfelsen im Vordergrund.
Gestern gab mir meine Mutter ein schwarz-weiß-Bild, das zwei kleine Jungen auf einem Esel zeigt, die zum Drachenfelsen hinauf reiten. Es hat zwei Flaschen Rotwein gebraucht, dann war sie endlich überzeugt, dass nicht ich, sondern meine beiden ältesten Brüder auf dem Bild zu sehen sind. Niemals setzt sich ein Joe auf einen Esel.
Zur Magarethehöhe bin ich oft mit meinen Großeltern gewandert. Damals war Königswinter mit dem Drachenfelsen und der Magarethenhöhe ein Urlauberparadies. Vor allem Niederländer kamen zu “Hollands höchsten Berg”, wie er damals genannt wurde. Die Tanzlokale waren schon morgens brechend voll und der Wein floss reichlich. Rund um die Magarethenhöhe gab es zahlreiche Souvenirstände und Gartenlokale, in denen man kaum einen Platz fand.
Im Mittelalter war hier der Ausgangspunkt für den Bittweg hinauf zum Petersberg. Es war die Zeit des Ablasshandels. An der Magarethenhöhe steht das Kreuz (1641) der Heiligen Magaretha, die von einem Drachen bedroht wird. Überlieferungen deuten den Drachen als Stadtpräfekten, der sie hinrichten ließ. Magaretha soll sehr schön gewesen sein. Sie gilt als eine der Vierzehn Nothelfer, genau wie der Heilige Aegidius.
Ein alter Trachytsteinbruch ist jetzt Grillplatz, wird Nasseplatz genannt. Nasse war der Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz (1815-1945). Trachyt ist ein Vulkangestein. Der Trachyt (= Drache) vom Drachenfels hat eine Besonderheit: er ist mit fingergroßen, tafelartigen Sanidinkristallen durchsetzt. Die Dome in Köln, Xanten und Worms wurden mit Trachyt vom Drachenfels erbaut. Wer die Außenmauern genau anschaut erkennt diese gedehnten Stoppschilder, die einen schwachen Perlmuttglanz aufweisen.
Wieder geht es hoch zur Löwenburg, jetzt umrunden wir diese. Als Kinder sind wir noch durch die Ruinen der Löwenburg gestöbert und lauschten den Sagen über die Kreuzritter, die hier ihre Verlobten zurücklassen mussten. Roland war einer der Kreuzritter. Als seine Verlobte hörte, dass er gefallen sei, zog sie ins Kloster auf der Insel Nonnenwerth. Doch Roland überlebte, baute oberhalb des Klosters eine Burg, um seiner Geliebten nahe zu sein. Von der Burg steht nur noch ein Fensterbogen, der Rolandsbogen.
Der Aufgang zur Löwenburg ist nun strikt untersagt. Der Gasthof darunter war romantischer Ort für einen Frühschoppen auf unserem Rheinsteig-Erlebnis-Lauf (320 km) im März des Jahres.
Kinder rodeln den Streuobstwiesenhang hinunter. “Macht Ihr auch Sport?“ “Elternsport”, antwortet eine Mutter. Da laufe ich doch lieber weiter, es gibt halt Sportarten, die sind gefährlich!
Hinauf führt unser Weg zum Leyberg mit seiner markanten Basaltkuppe. Der Himmerich wird “Riesenschiss” genannt, denn hier hat einer der sieben Riesen, die ihre Spaten abklopften, weswegen das Siebengebirge entstand, mal so richtig gesch….. So kommen wir heute auf insgesamt 785 Höhenmeter.
“ Hey, da kommt der Joe!” Man kennt mich am VP “Auge Gottes“, doch ich muss den Glühwein ablehnen. Ihr kennt ja jetzt die Story mit den zwei Jungs auf dem Esel. Das „Auge Gottes” wurde errichtet, um Holzdiebe von ihrem Tun abzuhalten.
Nach einem kurzen Anstieg kommen wir zu den Abschussrampen der V1 Raketen. Die meisten Zeugnisse sind nun unter dem Schnee begraben, nur das Löschwasserbecken ist zu erkennen. Ich hatte angenommen, von hier aus sei London bombardiert worden, doch die Lafetten wurden erst nach dem Einmarsch der Alliierten in der Eifel auf die östlichen Rheinseite verlegt. Die nächste, etwa 70 Meter lange Lafette, ist gut sichtbar. Die Amerikaner antworteten mit permanentem Artelleriebeschuss. Birken überwuchern nun die Granatlöcher, die noch vor wenigen Jahren mit Sumpfgräsern bewachsen waren.
1923 war dieser Ort schon einmal heftig umkämpft gewesen. Separatisten, unterstützt von Frankreich und Belgien, riefen die Rheinische Republik aus. Der Aufstand von Aegidienberg wurde blutig niedergeschlagen, die Toten liegen in einem Massengrab in Aegidienberg. Anschließend besetzten französisch-marokkanische Truppen das Siebengebirge. Genaueres lässt sich nicht erfahren - die Archive der französischen Behörden bleiben verschlossen.
Der Ortsteil Himberg hat die Reichsautobahn (1935, jetzt A3) mit Schotter aus dem Basaltsteinbruch versorgt. Heute sind der Steinbruch und der durch das Grundwasser entstandene See ein beliebtes Naherholungsgebiet.
Alles mit Freude überstanden, auch die Steigungen des Siebengebirgsmarathons. Es ist nun ein ein lockeres Auslaufen, gesichert durch freundliche Polizeibeamte, die die Hauptstraße für unsere Überquerung absperren.
Ein wunderbarer Adventssonntag liegt hinter mir und einige Gläser Kölsch vor mir, als ich in die Halle von Aegidienberg einlaufe. Zum Glück zählt die Uhr ab der Startzeit des Halbmarathons (9 Uhr). Wenn nicht, auch egal. Hier nimmt man das Zeitlimit von 6 Std nicht so genau.
Das hier ist nicht die Frankfurter Festhalle. Zum Glück, denn hier darf man noch verweilen, wird nicht raus gedrängt, darf im Warmen Essen und Trinken und mit Leuten zusammen sein, die sich nicht die Bettdecke über den Kopf ziehen, wenn´s ein wenig wintert. Es lohnt sich. Komisch nur, dass hier alle aussehen wie aus der Geisterbahn!