marathon4you.de

 

Laufberichte

Rauschenberg ist jetzt Ultra

 
Autor: Joe Kelbel

Oder: Jeder wie er kann

 

20 Kilometer östlich von Marburg, in der kleinen Stadt Rauschenberg, ist der Startort des Burgwaldmarathons. Das Startgeld beträgt nur einen Bruchteil dessen, was ich wegen der Selbstschußanlage auf der B3 in Marburg jetzt zahlen muß. Aber es gibt dieses Jahr nur eine umständliche Straße von Norden nach Rauschenberg, die südliche Zufahrt wird endlich  ausgebaut.

So abgeschieden der Ort heute ist, einst ging hier die Route des Deutschen Ordens in die baltischen Kolonien durch. Die wechselnden Herrschaftsansprüche und die Verarmung der Alteingessenen im ausgehenden Mittelalter haben in Rauschenberg ein starkes Konkurrenzdenken hinterlassen, während in den umliegenden Orten, in den junge Kolonien der Hugenotten und Waldenser, ein gutes Gemeinschaftsgefühl herrscht. Aufgefallen ist mir das, weil Verwaltungen, Feuerwehren und Forstbesitzer stark unterschiedliche Anteile vom Startgeld einfordern.

Die Startnummernausgabe ist im Tal, am Schwimmbad, das von eigenem Quellwasser gespeist wird. Seitdem der Galgenberg nicht mehr genutzt wird, nun auch ohne Leichenwasser. Von der alten Handelsstraße, der jetzigen Bahnhofstraße, waren die Gehenkten am Galgenberg gut sichtbar. Und das jahrelang, denn die getrocknete Haut hielt das Skelett oft zehn und mehr Jahre zusammen. Die Raben fraßen zunächst die Augen, später erst die Innereien. Es gab viele Gehenkte, die Geschichte hier war wild.

 

 

Sonntag 8 Uhr

 

Der Burgwaldmarathon ist erwachsen geworden, er findet jetzt jedes Jahr statt, falls es einige Läufer noch nicht mitbekommen haben. Neu ist der Ultra über 54 km, den sich ein biertrinkender Exremläufer gewünscht hat, damit er die schönsten, interessantesten Seiten Rauschenbergs nicht immer alleine besichtigen muß. Noch ist der Ultra auf 50 Teilnehmer begrenzt, angetreten sind bedeutend weniger, es ist ein heißer Tag angesagt.

Nach wenigen Metern biegen wir ein in die Marktstraße, die hinauf, Richtung Schloß führt. Einst war Rauschenberg bedeutend, die Fachwerkhäuser, etwa 400 Jahre alt, sind, und das ist außergewöhnlich, mehrstöckig und unglaublich hoch. Links das fünfstöckige, imposante Rathaus, dahinter die Stadtmauer. Interessant sind die sogenannten Hungerbögen: Bogenförmige Aussparungen in der Mauer, um mit ausgeklügelter Berechnung Baumaterial zu sparen.

 

 

Wenige Meter weiter kommen wir zum sechsstöckigen Burgmannenhaus, hier wohnten nacheinander die Herren von Weitershausen, Homberg, von Spiegel zu Desenberg und Freyen-Seyboldsdorff, da das Schloß, zu dem wir hinauflaufen, gesprengt worden war. Diese Herren hatten ein lebenslanges Wohnrecht in diesem prachtvollen Haus, doch 1812 wurden sie von Napoleon enteignet, das Haus kam in den Besitz des Bruders von Napoleon, Jérome Bonarparte, dem König des neu geschaffenen Königreiches Westphalen (1807-1813). Ob Preußen oder Hessen nach der Völkerschlacht von Leipzig (1813)  in den Besitz des Hauses kam ist fraglich, es verfällt nun.

Das nächste imposante Fachwerkhaus ist die fünfstöckige Metropolitanei, das ehemalige Pfarrhaus aus dem 16. Jahrhundert. Auch dieses Haus wurde von Napoleon beschlagnahmt. Die Enteignung von Kirchengütern diente der Vermögensmehrung der Verbündeten Napoleons. Als Ausgleich hinterließ uns Napoleon die Kirchensteuer.

Die wenigsten Läufer sind wohl noch in der Kirche, niemand beklagt sich, auch nicht weil es jetzt noch steiler noch oben geht.  Wir sind alle froh, hier hinauf laufen zu dürfen. In der zweiten Reihe sieht man noch verwunschene, unrenovierte alte Häuser, die sehen interessanter aus.

Rechter Hand die unscheinbare Kirche aus dem 13. Jahrhundert mit dem einzigartigen Altargemälde von Conrad von Soest (14. Jahrhundert). Die Besichtigung ist für Läuferangehörige empfehlenswert: Sonntags nach der Messe, ab 11:30.

Weiter geht es durch das Schloßtor. Gut erkennbar die Gleitbahnen des Fallgitters. Sonst habe ich linker Hand noch den Abdruck eines Pferdehufes gefunden, dieses Jahr muss ich schnell sein. Hier wurde Anna Martha Falk von einem Sittenstrolch ermordert. Ihr Todesschrei ließ das Pferd gegen die Wand austreten.

Der weitere Weg wird schmaler, fast unsichtbar.  Wir kommen zu einem Felsenkeller, der einst der Notausgang des Schloßes war, dann der Kühlschrank des Gasthofes.Von einem ruinösen Fensterbogen hat man links einen Blick hinab zu „Riemenschneiders Loch“. Der Sattler war zu Lebzeiten ein unangenehmer Typ, weswegen die Erde seinen Leichnam nicht mochte.  Seine Reste, von Verwesungsgasen aufgetrieben, erschienen jahrelang bei Regen an der Oberfläche des Tümpels. Gerade fette Leichen brauchen mehrere Jahre bis zur Verwesung.

Das Schloß, die ehemalige Burg der Herren von Rauschenberg, wurde 1646 gesprengt, nicht wegend des Dreißigjährigen Krieges, während dessen die Schweden das Schloß plünderten, sondern wegen des Hessischen Erbfolgekrieges, der zeitgleich wütete. Dies war ein Krieg unter den Erben des Landgrafen von Marburg, wobei trotz Konfessionsgleichheit aus Machtkalkül schon mal die Konfession gewechselt wurde. Die kriegerischen Auseinandersetzungen der Hessen in diesem Ort dauerten von 1604 bis 1648, bis zum Westfälischen Frieden.

Die Burg aus dem 11. Jahrhundert mit ihren wenigen Mauerresten und einem 20 Meter hohen Schuttberg ist aus dieser Zeit. Sie wird von einer keltischen Ringanlage umgeben, über den unsere Laufstrecke führt. Wir biegen nun in den Panoramaweg ein, prämiert mit dem Deutschen Wandersiegel, und laufen in den Märchenwald, eine liebevoll gebaute Miniaturwelt. Anschließend folgt ein schöner Waldspielplatz und weiter geht es für uns durch lockeren Wald und Felder, an der alten Ziegelei vorbei, bis nach Schwabendorf.

 

 

Nicht Schwaben gaben dem Dorf den Namen, es ist eine Flurbezeichnung „Auf der Schwabe“ bezeichnet die Strumpfmacherei, auf die sich die protestantischen Religionsflüchtlinge spezialisierten. Im protestantischen Hessen gab es nach dem 30jährigen Krieg eine ausgesprochene Willkommenskultur für Hugenotten und Waldenser, sie galten als fleißige Leute. 1687 wurde die Kolonie von 116 französischen Glaubensflüchlingen gegründet. Ihre Aufgabe war die Urbarmachung der Sumpfgebiete (heute Franzosenwiese genannt).  Das hübsche Heimatmuseum hat kleine Schätze bewahrt.

Die Heilige Eiche besteht aus zwei Eichen, die anläßlich der Vertreibung Napoleons und seines hier regierenden Bruders nach der Völkerschlacht 1813 gepflanzt wurden. Die erste 1863 (50jähriges), die zweite 1913 (100 jähriges) mit jeweils pompöser Party.

Der nächste Ort ist Wolfkaute. So benannt, weil hier einst ein großes Wolfsrudel in einer Niederung kauerte. Jetzt siedelt hier die Hundepension von Elisabeth. Uns kommen die letzten Marathonläufer entgegen, wir werden sie bald überholen. Zunächst geht es aber weiter Richtung Rauschenberg. Der sechseckige Rabenstein könnte auch eine germanische Kultstätte sein.  Aber nicht überall, wo man einst Bier trank, muss es auch gleich eine Kultstätte geben.
Die Aussicht ist jedenfalls biermäßig gut:  Wohratal, Kellerwald und Burgwald.

Unterhalb des Schlossberges, aber oberhalb der Kirche, hinter dem Denkmal für die Gefallenen, kommen wir von einem wunderschönen Trail zurück und laufen den steilen Weg durch das Schloßtor hinunter, zurück nach Rauschenberg, vorbei am Startgelände. Dort biegen wir nun auf die Marathonstrecke ein, wo uns sogleich die ersten Halbmarathonläufer überholen. Dieses Timing ist hervorragend. Viele Kurzstreckler klopfen mir auf die Schulter, finden anerkennende Worte.

 

 

Zurück in Wolfskaute besticht wie jedes Jahr der pralle Apfelbaum: „Guck dir das an!“ sagt einer der Läufer vor mir. Da liegen die wunderbaren, wohlgefärbten Äpfel in der Wiese, und niemand macht Apfelwein daraus. Ein letztes Mal, denn es wird eine gravierende Neuerung beim Burgwaldmarathon geben. Den „Hessischen Doag“, mit Apfelwein und Handkäse, dazu später mehr.

Ich mag diese abwechslungsreiche Lanschaft mit den weiten Blicken ins Land und den alten Dörfern.In Albshausen gibt es noch Reste der alten Gutshöfe.  Wenigstens hat man die Dächer der Ruinen erneuert, vielleicht gibt es bald Förderprogramme, die das bewahren, was Heimat auch ausmacht.

Eigentlich ist der Weg entlang des Waldrandes schön schattig, eigentlich ist es noch nicht zu heiß, und eigentlich habe ich wohl in letzter Zeit zuviele Läufe getätigt, und eigentlich wären die 34 letzten Kilometer bis zum Ziel ein Klacks für mich.

Ich schwächele, aber das ist hier kein großes Problem, es gibt kein wirkliches Zeitlimit. Jedoch sind die langen, weiten Wege durch den Forst mental nicht vorteilhaft, auch wenn dies ein Begegnungstück ist und deswegen ein wenig Abwechslung bringt. Zunächst begegnen mir die Marathonläufer und die schnellen Ultraläufer, die mich alle grüßen und bewundern, als hätte ich, nur weil ich mir Zeit lasse, größere Mühe zu folgen.

Am Ende des Kreuzeichenweges beginnt der Herrenweg, der über die Herrenbrücke führt, danach die Herrenbänke und der Landgrafenborn,  alles Bezeichnungen, die die extreme Standesunterschiede in Rauschenberg bezeugen, die ich eingangs erwähnte. Die „Herren“ hatten hier ihre Jagdgebiete, doch nach dem 30jährigen Krieg und der anschließenden Abwanderung der Bevölkerung nach Amerika war nicht mehr viel mit „Herrentum“.  Letzes Jahr ist hier der Amerikaner Dane Rauschenberg gelaufen, ein verrückter Marathonsammler, der schon in Dane, in Australien, und halt in Rauschenberg gelaufen ist, ohne zu wissen, daß seine Vorfahren nach persönlicher Insolvenz von hier nach Amerika ausgewandert sind. Die Auswanderer haben oft schon in Bremerhaven nicht mehr ihren Familiennamen angegeben, damit Gläubiger sie nicht verfolgen können.

Wer die Fotos gesichtet hat, hat begriffen, die Kilometer werden heruntergezählt. Bei Restkilometer 21 also kommen wir zu den Franzosenwiesen. Rechter Hand das Rotmoor (Rotes Wasser) so wie es früher aussah, bevor die französischen Flüchtlinge das Land trockenlegten.  Hier ist das Wasser nicht rot wegen der sauren Torfbildung, sondern wegen des roten Lößbodens.

Auf Kilometern warnen uns nun Schilder, daß wir in dem sogenannten Bannwald fürchterlich einbrechen könnten. Gut, es gibt offene Buntsandsteinformationen, entstanden vor 250 Mio Jahren, als Hessen, Teil des Superkontinents Pangäa, durch den Wüstengürtel unserer Erde wanderte, aber sterben würde hier niemand. Es ist ein Etikettenschwindel des Forstamtes, das hier unter der Rubrik „nachhaltiger Wasserhaushalt“ das Pinkeln eines Ultraläufers unterbinden will, obwohl die doch für unsere Passage 150 Euro erhalten haben.

 

 

Devrim verfolgt mich. Devrim ist der mutmaßlich einzige Türke in der deutschen Lauflandschaft. Er versucht mir ein Gespräch aufzuzwingen, obwohl es ihm auch nicht gut geht. Er hat ebenfalls noch die 100 Meilen von Berlin in den Knochen.

Es geht abwärts ins Wohratal. Jetzt kochen die Luft und ich. Es geht einfach nicht vorwärts. Kein Wunder, daß hier vor 200 Jahren die Dörfen aufgegeben wurden. Die Urgesteine Preißler hole ich am VP ein, wo es das erste Mal Weizenbier  und eine Unwetterwahrnung gibt.

Der Weg entlang der alten Bahnstrecke der Wohrabahn ist zwar schön, doch die Luft steht. Liebevoll sind die kleinen Bahnhöfe restauriert. Die Fiddelmühle ist ein Reiterhof, früher ein geheimer Ort, mit dubiosen Geheimgängen.

Ziel. Keine gute Zeit, weswegen Chef Heinz finster in die Kamera guckt. Nächstes Jahr gibt es die Option  eines Frühstarts, damit diejenigen, die jetzt noch auf der Strecke sind und ins Unwetter geraten, nächstes Jahr mehr Freude haben.

 

 

Wir alle werden mehr Freude haben: Der Start wird samstags sein, zu einer Zeit, an der jeder aus Deutschland bequem anreisen kann. Es macht einfach keinen Sinn, ohne Licherpils und Apfelwein durch die Landschaft zu laufen. Ich sage Heinz, er solle einfach mal ab und zu einen Kasten Hassia in die Landschaft stellen, dann wären wir noch glücklicher.

Ganz klasse seine Idee für nächstes Jahr: der „Hessischen Doag“. In den Startunterlagen war schon ein Wörterbuch, damit wir Laufkollesche nach dem Zieleinlauf Handkäs und Worschd richtig bestellen, und den Schobbe stilgerecht petze könne. Unser David Bowie heißt Heinz Schenk! Ausgesprochen gute Idee!

Wir sitzen noch beim Licher und planen das nächste Jahr, da fegt es die gesamten Aufbauten weg! Sogar Brötchen und Bratwürste können fliegen! Die letzen Läufer nicht, aber das macht den Burgwaldmarathon aus: Hier darf jeder so wie er kann.

 

Informationen: Burgwald Märchen Marathon
Veranstalter-WebsiteE-MailErgebnislisteHotelangeboteOnlinewetterGoogle/Routenplaner

 
NEWS MAGAZIN bestellen
Das marathon4you.de Jahrbuch 2024