oder:
Zu keiner anderen Zeit werden den Menschen so viele Unterhaltungsangebote gemacht, wie zum Jahreswechsel. Überall gibt es Silvesterbälle, -galas und –partys, aber auch über 150 Silvesterläufe und einen Marathon – in Zürich, genau gesagt in Schlieren.
Schlieren ist ein Industriestädtchen westlich von Zürich, hat ungefähr 13.000 Einwohner und war bis zur Eroberung des Aargaus durch die Eidgenossen 1415 im Besitz der Habsburger, deren Stammsitz, die Habsburg, nicht weit entfernt liegt.
Genau genommen ist die Bezeichnung „Neujahrsmarathon Zürich“ also ein Etikettenschwindel, denn auch die Laufstrecke führt nicht in die schweizerische Metropole, sondern durch die „Pampa“ in entgegen gesetzter Richtung der Limmat entlang. Der Fluss, der im Kanton Glarus entspringt, durch Zürich und den gleichnamigen See fließt und nach 140 Kilometern bei Brugg in die Aare mündet, ist dann auch die einzige Verbindung, die sich zu Zürich herstellen lässt.
Das Organisationskomitee um den Mathematiker Roger Kaufmann (Marathonbestzeit 2:54) strotzt nur so von sportlicher Kompetenz. Mit dabei Ironmann Ueli Bieler und Ironfrau Catherine Egger und weitere wettkampferprobte Straßen- und Bergläufer.
Das Wettkampfzentrum mit der Startnummernausgabe ist in der Turnhalle Zelgli in Schlieren. Dort sind auch die sanitären Einrichtungen und ein kleiner, bewirteter Aufenthaltsraum. Parkplätze findet man in unmittelbarer Nähe. Vom Bahnhof in Schlieren aus hat man keine 10 Minuten Fußweg.
Die Wetterpropheten sind wieder einmal viel besser als ihr Ruf – wie vorhergesagt, beginnt es am späten Silvesterabend zu regnen. Zum Glück ist es nicht kalt, um die 8 Grad, nur der Wind stört. Das hält viele nicht davon ab, in letzter Stunde ihre Meldung abzugeben. Auf fast 400 addieren sich schließlich die Anmeldungen für den Marathon, Halbmarathon und 10 km-Lauf. Das ist neuer Rekord.
Kurz vor Zwölf, der Regen hat aufgehört, versammeln sich dann ungefähr 120 Marathonis an der Startlinie auf dem Feldweg am Sportplatz (die anderen Läufe werden jeweils 10 Minuten später gestartet). Roger Kaufmann gibt letzte Informationen zur Strecke und zum Ablauf. Ein Helfer zaubert mit Feuerwerkskörpern rechts und links der Strecke so etwas wie eine festliche Stimmung. Der Startschuss geht im punkt Mitternacht einsetzenden allgemeinen Geballere fast unter.
Nach einem kurzen Stück sind wir am Limmatufer und laufen rechts auf den eigentlichen Rundkurs, der jetzt 3mal zu absolvieren ist. Ein paar Helfer weisen den Weg und rufen: „Ä guets Neus.“
Eng wird es auf den schmalen Feld- und Waldwegen nicht. Die schnellen Läuferinnen und Läufer sind bald außer Sichtweite und die langsameren Genussläufer in der Minderzahl. Ich bin als Letzter gestartet, überhole drei oder vier Läufer und dann bin ich alleine in der Nacht, die zunächst noch ganz unterhaltsam ist, denn links am anderen Flussufer ist das Feuerwerk, das in Unterengstringen abgebrannt wird, nicht zu übersehen und zu überhören.
Nach knapp 2 Kilometern wechseln wir die Flußseite und haben jetzt links den Fluß und rechts den Ort, wo viele ihre Raketen und Böller bereits verschossen haben und es deshalb etwas ruhiger wird. Auch hier wünschen uns ein paar Leute „ä guats Neus.“
An einem kleinen Limmat-Zufluss geht es weiter. Den Wegweisern entnehme ich, dass wir genau auf das Kloster Fahr zulaufen. Das 1130 gegründete Benediktinerinnenkloster ist eine Schweizer Kuriosität. Die Exklave des Kantons Aargau ist seit 1803 vollständig von der zum Kanton Zürich gehörenden Gemeinde Unterengstringen umschlossen. Weil das Kloster keiner Gemeinde angeschlossen ist, bezahlt es auch keine Steuern. Aber auch in der Schweiz sitzt man nicht mehr überall auf prall gefüllten Geldsäcken und daher ist mit diesem Privileg demnächst Schluss.
Wir laufen immer dem Flussufer entlang Richtung Dietikon. Ich bin sicher, die Strecke ist ganz attraktiv. Aber zu sehen ist kaum etwas, um mich ist dunkle Nacht. Nur die 3 LED’s meiner Stirnlampe leuchten den Laufweg etwas aus. Erfahrene Nachtläufer schwören ja darauf, ohne Lampe zu laufen. Stefan Schlett hat mir mal erklärt, dass ihn künstliches Licht mehr blenden als ihm helfen würde. Seine Augen würden sich schnell der Dunkelheit soweit anpassen, dass er problemlos laufen könne. Eine Lampe habe der daher nur für Notfälle dabei. Da ich auch bei Tag nicht problemlos laufen kann, will ich mir daran kein Beispiel nehmen und verzichte nur auf das integrierte Halogenfernlicht.
Ungefähr bei km 5,5 haben wir die erste Verpflegungsstelle, wo Wasser, Iso, Bananen und Gel für die Läuferinnen und Läufer bereitgehalten werden. Für Licht und Wärme sorgen entzündete Holzstämme. Der folgende Streckenabschnitt entlang der Bahnlinie ist dann aber gut ausgeleuchtet und es geht ohne Stolperer weiter. Dieser 1847 in Betrieb genommenen Bahnlinie verdankt Dietikon seinen wirtschaftlichen Aufschwung, denn zwischen Baden und Zürich gab es keine andere Haltestelle für die „Spanisch-Brötli-Bahn“.
Woher dieser Name kommt? In Baden gab es zu jener Zeit einen Bäckermeister, dessen „Spanische Brötchen“ weithin bekannt waren. Auch die Züricher feinen Herrschaften wussten diese Spezialität zu schätzen und schickten ihre Dienstboten zum Einkauf mit der Bahn nach Baden. Bevor es die Bahn gab, erledigten die armen Kerle die Einkaufstour übrigens zu Fuß. Hin und zurück waren das, je nach dem wo die herrschaftliche Villa lag, mindestens 42 Kilometer …
Gut befestigte Wege führen uns im Zickzack an Felder und Wiesen vorbei, bis uns eine Rampe steil hinauf zur Autobahn Baden-Zürich führt, der wir ein kurzes Stück parallel folgen, bis wir wieder die Flussseite wechseln und nun immer am Ufer bleiben, bis wir zurück sind an unserem Ausgangspunkt. Streckenposten achten darauf, dass keiner „versehentlich“ rechts ab Richtung Zelgli läuft, sondern zur zweiten Runde am Flussufer bleibt.
Ich sagte es schon, die Strecke ist landschaftlich bestimmt sehr schön. Aber bei Nacht hat man davon nichts und ehrlich gesagt, mir wäre eine Topf ebene, betonierte Piste lieber. So stolpere ich halt öfters mal über Wurzeln und Steine und überhaupt geht mir das Ganze mächtig in die Beine und auf den Geist. Zum Glück und rein zufällig habe ich meiner Frau zu Weihnachten einen iPod geschenkt und in den letzten Tagen mit jeder Menge Musik gefüttert. Damit ist mein mentales Problem gelöst. Die Schmerzen in den Beinen verschwinden damit jedoch nicht, allerdings muss ich nicht dauernd daran denken.
Wenn ich in meiner Streckenbeschreibung etwas sparsam mit den Kilometerangaben umgehe, liegt das daran, dass es keine entsprechenden Hinweise gibt – dachte ich. Bis ich bei der Verpflegungsstelle bei km 25 danach frage und den Hinweis bekomme, dass es auf dem Schild kurz davor angeschrieben steht. Das will ich genau wissen, gehe zurück und schaue nach. Tatsächlich, alles steht in ca. 20 mm großen Lettern drauf: Kilometer 1. Runde, 2. Runde, 3. Runde – aber wer weiß das und vor allem, wer sieht das beim Laufen? Dass man das bei soviel sportlicher Kompetenz innerhalb der Organisation nicht besser löst, verstehe ich nicht.
Ich bin doppelt sauer. Ich habe meine ramponierte körperliche Verfassung nämlich auch darauf zurück geführt, dass ich zumindest am Anfang zu schnell unterwegs war. Jetzt belegt mir die Zeit (2:44 Stunden für 25 Kilometer) genau das Gegenteil. Und dann fängt es auch noch an zu regnen und böige Winde kommen auf.
Mein Weihnachtsgeschenk an meine Frau tut in diesem Moment wieder gute Dienste. Ich habe „Runrig“ im Ohr, live. Ich erinnere mich an eines der ersten Konzerte der schottischen Kultband in Freiburg und vor allem an ihr letztes mit dem Sänger Donnie Munro, 1997 im Kölner Tanzbrunnen. Viele Stücke werden in gälisch gesungen, was ich natürlich noch weniger verstehe als englisch. Bei der sagenhaften Stimme von Donnie, den eingängigen Melodien und dem Rhythmus, meist von zwei riesigen Schlagzeugen erzeugt, ist das aber kein Problem. Nur wenn jemand all zu sehr ins Mikrofon seufzt, will ich wissen, was ihn so schmerzt. Das kommt bei "Runrig" aber nicht vor.
Ab und zu überhole ich jetzt einen Läufer, was mich ehrlich gesagt auch etwas aufbaut. Ich selbst werde nicht überholt. Es wird halt keiner mehr hinter mir sein. Die haben angesichts meiner mentalen Stärke entnervt aufgegeben. Wenn ich dadurch Letzter werde, kann ich gut damit leben.
Ich schaffe auch die letzte Runde – allerdings muss ich noch etwas Zeit dazu tun. Das Limit von 4:30 würde ich verfehlen, das war mir schon vorher klar. Aber so deutlich? 4:51 Stunden zeigt die Uhr beim Zieleinlauf. Da kommt Freude nur deshalb auf, weil ich durchgehalten habe. Auch die überschwängliche Begrüßung des Sprechers und der (ohne Blick auf die Teilnehmerzahl) hervorragende 101. Platz kann da nicht viel helfen. Bei meinem letzten Marathon 2006 im Siebengebirge war ich trotz 800 Höhenmeter schneller. Muss ich das verstehen?
Iso und Bananen sollen mich aufpäppeln. Ein freundlicher Helfer nimmt mir den kostenlosen Leihchip vom Bein. Danke, dass ich mich nicht bücken muss. Als Geschenk kann sich jeder Finisher ein Nike-Produkt auswählen. Für die Letzten sind noch Caps und Mützen im Angebot. Eine Urkunde kann man sich im Internet besorgen. Im Aufenthaltsraum neben der Turnhalle ist es jetzt ganz gemütlich. Bei Pasta, Brötchen, Kaffee und Kuchen kann man sich etwas erholen.
Ich bin ganz schön platt. Wenn ich mich aus anderen Gründen nicht schon längst gegen den Marathon in Kevelaer entschieden hätte, ich würde ihn jetzt streichen. Wenn mich die nächsten Läufe auch so schlauchen, werde ich dieses Jahr keine 44 schaffen. Vielleicht 42, ist ja auch eine gute Zahl.
Streckenbeschreibung
Rundkurs entlang dem Limmat, dreimal zu durchlaufen. Flach, bis auf ein paar Steigungen an Brücken. 30 % Asphalt-, 70 % Naturwege.
Zeitnahme
Kostenloser Leihship
Auszeichnung
Urkunde aus dem Internet, NIKE-Geschenk
Logistik
Parkplätze in unmittelbarer Nähe, vom Bahnhof ca. 10 Min. Duschen und Umkleiden in der Turnhalle Zelgli
Verpflegung
Ausreichend Verpflegungsstellen mit Wasser, Iso, Bananen und Gel