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Laufberichte

Ab nach Kassel!

12.05.13
Autor: Joe Kelbel

Als ich nach Hessen zog, sagte mein Großvater zu mir: “Ab nach Kassel”. Meine Großmutter erklärte mir, der Ausdruck käme daher, dass in Kassel das Rekrutierungsbüro für den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1782) der Kolonialmacht England war und die dümmsten Söhne der Familie nach Kassel geschickt wurden. Und ich dachte immer, die werden zur Börse geschickt.

Die hessischen Fürsten trieben einen regen Soldatenhandel, wobei es ihnen egal war, ob die Soldaten für die Briten, die unabhängigkeitsbestrebten Amerikaner, für die Sicherung britischer Einflussgebiete, oder für das französische Fremdenregiment angeworben wurden.

Die Wilhelmshöher Kriegskarten (über Internet abrufbar) enthalten die Namen der hessischen Söldner. Garantiert findet der Kassler Marathonläufer einige seiner Vorläufer in dieser Starterliste. Interessant auch die Gefechtspläne und Frontverläufe der hessischen Korps beim Kampf um New York.

Mein Großvater hatte eine andere andere Version von “Ab nach Kassel”: Sie entstand, nachdem Napoleon III. gefangen genommen wurde. Da  erschien 1871 eine  Karikatur, in der Bismark und Moltke Napoleon III den Weg nach Kassel zum Hausarrest ins Schloss Wilhelmshöhe wiesen, welches damals die Residenz von Jerome, des Bruders des Korsennapoleons war. Natürlich hieß es damals nicht Wilhelmshöhe, denn der war ja noch nicht geboren.

Über Jahrzehnte benutzte die Stadt Kassel den Ausdruck “Ab nach Kassel” als Werbesslogan. Es ist freundlich und aufmunternd gemeint, schließlich hatte man jahrelange Erfahrung mit den Franzosen. Denn vor 300 Jahren hieß es auch schon  “Ab nach Kassel”:

Als Der Sonnenkönig 1685 die Glaubensfreiheit der calvinistischen Protestanten (Hugenotten) aufhob, flüchteten diese in die liberalen Hessischen Fürstentümer, deren Herrscher das Wissen und legendäre Leistungsfähigkeit der Neubürger schätzten, weswegen die Stadtplanung von Kassel ein gewisser Paul du Ry übernahm.

Die Hugenotten sorgten in den Ländern, in denen sie immigrierten für eine Blüte der Wirtschaft.  Der “Hugenottenstil” ist eine Bauart, die nun das Stadtbild von Kassel prägt. Schloss Wilhelmshöhe ist das größte Gebäude in Kassel in diesem französisch geprägten Stiles.

Das “y” im Nachnamen von Paul du Ry war das frühere französische “é”. Paul war also Nachkomme des Sonnenkönigs Ré. Der Schloßverwalter des von Paul de Ry gebauten Prachtbaues hieß Laby, auf hugenottisch L`abé , Sohn des Abtes  und Familienname meines Großvaters, dessen Vorfahren später von Kassel nach Schlesien zogen, als Schlesien durch die preußische Eroberung protestantisch wurde. Sie waren von da an nicht mehr Schlossverwalter eines Landgrafen, sondern die des Fürsten von Pleß. “Ab nach Kassel” bedeutete für meinen Großvater also einen Karrieresprung. 1945 ging es wieder  “Ab nach Kassel”, diesmal ins Übergangslager.

Das Marathon-Zentrum befindet sich in der Karlsaue, ehemaliger Lustgarten, benannt nach Landgraf Karl, der ihn zum Barockgarten ausbauen ließ. Kaiser Wilhelm ließ die Festhalle und die Hessenkampfbahn bauen. Das Auestadion wurde in den 1950er Jahren gebaut, die Fundamente bestehen aus den Trümmern von 1945.

1965 fanden hier die ersten internationalen Leichtathletik-Wettkämpfe statt. Über 20 Jahre trainierte Winfried Aufenanger im Auftrag des DLV hier die nationale Marathonis-Elite. Als Bundestrainer brachte er die deutschen Läufer zu fünf Olympiateilnahmen und uns heute zum siebten Kassel Marathon.

Die Marathonmesse ist vergleichsweise groß. Ich entdecke eine “Sonderaktion Frauen”, auch nicht preisgünstiger als anderswo. Aber ich habe sowieso keine Zeit, muss noch den Beutel abgeben. Das wollen noch viele, aber die älteren Damen auf der einen Seite der Halle sind nur für Stöckchenschwinger zuständig. Und jetzt bin ich seriös….

Der Start ist 200 Meter außerhalb des Stadions auf der Damaschkestraße. Damaschke sollte in der Weimarer Republik Reichskanzler werden. Seine biblisch geprägte Ansicht über Besitz von Grund und Boden findet sich heute in unterschiedlichen, wenig christlichen Steuerarten wieder. Als Wilhelm II. dem Ruderclub (an der damals noch nicht vorhandenen Damaschabrücke) ein Kanu schenkte, sagte er: “ Nun rudert mal schön!” 

“Nun lauft mal schön!”sagt der ehemalige Marathon-Bundestrainer und schickt uns auf die Strecke. Die führt sternförmig um Kassel, zunächst nach Osten um die Fuldaaue herum.

Immer wieder begleiten uns Eichenbäume im zarten Frühlingsgrün, jeweils daneben eine Basaltsäule. Es ist ein Kunstwerk von Joseph Beuys. Er  ließ hier (1982-87)  7000 Eichen pflanzen. Einige mussten inzwischen erneuert, andere durch robustere Baumarten ersetzt werden.

Im Stadtteil Waldau war die erste Heimat des Kasseler Flugplatzes und erstes, ewiges Flughafen-Millionengrab. Durchaus ein Traditionsplatz, denn hier wurden 1928 die ersten Raketen getestet, später die V1, ein 645 km/h schneller Flugkörper aus Holz.

Nach der Nutzung durch die Amerikaner versuchten sich mehrere Fluglinien auf dem Fluplatz: General Air, Estein-Reisen, Aviaction Kassel, Nora Air Service, Air Commerz, alle gingen pleite. Politiker sind wie Börsianer: ”Diesmal ist alles anders!”

Doch wie sagte der hessische Ministerpräsident Osswald schon 1973, nachdem der Flughafen 1970 von Waldau nach Calden verlegt wurde: “ Ich kann das Wort Calden nicht mehr hören!”

Durchaus erfolgreich war der Flugzeugbauer und Kunstpilot Gerhard Fieseler, der hier seine Flugzeugwerke errichtete, km 7,5 Forstfeld. Hier wurden vornehmlich leichte Sport- und Segelflieger hergestellten. Die kleinen Messerschmidts mit den einklappbaren Flügeln sollte von dem Luftschiff Graf Zeppelin transportiert werden, welches 1930 hier landete und einen unglaublichen Menschenauflauf produzierte. Briefe, die damals mit dem Luftschiff von Wiesbaden nach Kassel transportiert wurden, zählen zu den teuersten des deutschen Sammelgebietes.

Jeder Stadtteil begrüßt uns mit großen Schildern. Die Orte sind nicht groß, nur an den Staffelwechselstellen wird es lebhaft. Manchmal höre ich, wie über Lautsprecher Suchmeldungen durchgegeben werden, wenn die Übergabe nicht recht geklappt hat.

Bettenhausen bei km 12 hat nicht den Namen, weil dort im Kupferhammer der  Kasseler Herkules im Feuer gezeugt wurde. Es ist die frühere Werkssiedlung der Industriebetriebe. Der Herkules (1717) thront nun über Kassel, es ist der sich ausruhende, über seine Heldentaten nachdenkende Herakles. Behängt mit einem Löwenfell stützt er sich auf eine Keule. Seine rechte Hand hinter dem Rücken hält die “Äpfel der Hesperiden”, keine Titten. Es sind die Früchte, die Herakles aus den Gärten der Nymphen nach Mykenä bringen musste, eine seiner Heldentaten. Äpfel gibt es an den Verpflegungsstationen, auch Bananen.

Die Strecke führt zweimal über die renaturierte Losse, vorbei an Freizeit- und Kleingärtneranlagen. Wir passieren dann die imposante, richtig gut aussehende, verfallene Werksanlage der Textilfabrik Salzmann, sie ging in den 70er Jahren aufgrund der Billigkonkurrenz auch China in die Knie. In den 90ern wurde  die Diskothek “Stammheim” mit ihren Großveranstaltungen über drei Stockwerke den Anwohnern zu lästig. Das war´s dann. Jetzt verfällt eines der größten Industriedenkmäler Deutschlands. Für mich einer der schönste Flecken des Marathons. Die IG-Metall darf ihre Demo morgen, am Montag, in der gesperrten, wunderschönen Innenstadt abhalten. Wir laufen durch verfallene Industriegebiete.

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Informationen: Kassel Marathon
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