Wir treffen uns um 12 Uhr bei Volker in Dortmund und fahren dann zur Saarlandstraße, zum Nudelhaus "Da Capo". Dort machen wir unsere eigene Pasta-Party. Eine doppelte Portion Macaroni Bolognese, danach noch eine einfache Portion und einen Salat, abgerundet mit drei großen Kugeln Eis. Spätestens jetzt ist uns schlecht. Auf der Fahrt nach Essen stöhnen wir uns gegen- seitig vor, wie voll wir sind. Aber wir kommen an... ohne zu platzen.
Im Zielbereich in Essen holen wir unsere Startunterlagen ab, mit einer schönen Sporttasche. Die passt zum Rucksack vom letzten Jahr. Danach schlendern wir noch ein wenig über die Marathonmesse. Ein T-Shirt als Souvenir. Oder eine neue kurze Hose. Hier gibt es manche Schnäppchen. Das Schlendern strengt aber doch an. In einer ruhigen Minute döse ich so vor mich hin und denke an morgen, an den anstrengenden Lauf, an die vielen Zuschauer, an die Quälerei, an die Schmerzen in den Beinen und daran, dass das Alles doch Spaß macht.
Auf dem Weg nach Dortmund, so nach 5 Minuten Fahrt, stehen wir an einer Kreuzung. Die Ampel ist rot. Wir bemerken plötzlich den blauen Strich auf der Straße und uns wird bewusst, dass wir morgen hier entlang laufen werden. Nur... die Straße mit dem Strich ist total steil. Es geht gut bergauf. Und das hier bei ungefähr Km 40 oder 41. Wenn die Beine schon lange schwer wie Blei sind. Das kann ja was werden. Zum Glück wurde aber überall geschrieben, dass die neue Strecke viel leichter ist, viel flacher und schneller. Wahrscheinlich ist das der einzige Berg...
4.30 Uhr. Ich bin hellwach und kann nicht mehr einschlafen. Um 5.30 Uhr stehe ich dann auf und mache mich fertig. Drei Toast mit Rübenkraut, eine Tasse Kaffee... Marathonfrühstück. Danach die wichtigen Teile einfetten und los geht´s.
Auf der Fahrt nach Dortmund läuft mein "neuer" Kampfsong: "Insomnia" von Faithless. Schön laut. Das gibt den richtigen Rhythmus. Insomnia... Schlaflosigkeit. Das passt. In letzter Zeit habe ich wirklich schlecht geschlafen. Ich werde morgens zu früh wach und grübele so vor mich hin. Über kleine und große Probleme. Über Gott und die Welt. Ich liege dann bis morgens wach im Bett. Auf Dauer ist das nicht gesund.
Ich hole Dirk ab. Er muss sich auch noch einige "Insomnias" antun. Aber da muss er durch. Bei Volker ist Treffpunkt. Mit unserem Fanclub fahren wir nach Bövinghausen, zum Start. Wir ziehen unsere Plastik-Einweg-Mäntel an und müssen ca. 2 km laufen, bis zum Startblock C. Hier wollen wir gemeinsam starten. Die Sonne ist schon ganz schön warm. Wir hüpfen und lockern die Gelenke und Muskeln. Aber mehr vor Aufregung als mit irgendeinem Sinn. Hier an der Provinzialstraße wird es in der nächsten Zeit viele Grenzstreitigkeiten geben. 20.000 Läufer haben mehrfach ihr Revier markiert. Wir auch. Uns gehört jetzt der eine oder andere Baum und Strauch. Mann sein hat doch auch Vorteile...
Eberhard Ginger macht eine Punktlandung mit dem Fallschirm. Joey Kelly erzählt noch einmal, wie schnell die Strecke ist, und wie leicht. Dann der Startschuss. Wir verabschieden uns vom Fanclub und los geht´s.
Wir kommen nur langsam in den Tritt. Es ist sehr voll. Gedränge. Einige Walker gehen zu fünft oder sechst nebeneinander. Ich liebe es. Da muss man erst mal dran vorbei kommen. Die Provinzialstraße ist hier schon ganz schön wellig. Es geht immer rauf und runter. Aber nur leicht. Es ist ja auch eine schnelle Strecke. Richtige Steigungen können da ja nicht kommen. Bis auf die Eine, die wir gestern gesehen haben. Kurz vor dem Ziel. Die ist noch weit weg.
Recht schnell laufen wir vier jeder unser eigenes Rennen. Doch nach einigen Kilometern stellen wir fest, dass Michael und ich das gleiche Tempo laufen. Mal ist er vorne, mal ich. Das passt ganz gut. Ohne Absprache laufen wir dann die erste Hälfte zusammen.
In der Opel-Halle, die wir auf einer Länge von 350 m durchqueren, hören wir Musik. Ein toller Klang, ein tolles Stück, eine tolle Stimme. Am Hallenende steht eine Sopranistin in zwei oder drei Metern Höhe auf einer Bühne, von einem Piano begleitet. Alles live. Eine Gänsehaut läuft über meinen Rücken. Echt eine tolle Idee. Das Highlight der Strecke.
Irgendwo unter einer Brücke steht ein einsamer Saxophonspieler. Auch er bekommt Applaus von uns Läufern. Das macht einen Stadtmarathon aus. Auch die Zuschauer am Streckenrand lassen sich etwas einfallen. Genauso wie der Asterix, Michel aus Hamburg. Ich habe ihn noch letzte Woche bei der TV-Übertragung vom Hamburg-Marathon gesehen. Ein Franzose, der in Hamburg lebt und bisher alle Hamburg-Marathons mit gelaufen ist. Ich klatsche ihn ab und rufe seinen Namen. Er ruft auch meinen Namen. Der Vorname auf der Startnummer ist wirklich eine gute Idee.
Bis zum Halbmarathonpunkt laufe ich so mit Michael zusammen. Mir klingt immer noch "Insomnia" in den Ohren. Aber die Zuschauer geben alles. Krach und Gekreische, Getriller und Gehupe. Ohne Ende. Danke, ihr unbekannten 500.000 an der Strecke. Danke an alle, die meinen Namen gerufen und mich weiter getrieben haben. Ich merke jetzt meine Beine. Sie schmerzen schon ganz schön. Ich sage es Michael. Ihm geht es noch gut. Er ist noch locker und gut drauf.
Jeder von uns läuft sein eigenes Rennen. Das war vorher abgemacht. Und Micha zieht langsam aber sicher davon. Ich versuche noch, an ihm dran zu bleiben, aber das geht nicht. Er ist den berühmten kleinen Schlag schneller. Er zieht ab. Ich laufe so vor mich hin und verpasse fast unseren Fanclub. Die Kuhglocken hätte ich beinahe überhört. Ich glaube, ich habe schon den Tunnelblick. Die Fans reißen mich aber wieder aus dem "Schlaf". Es geht weiter.
Sprach Siddhartha: "Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten." Ein Zitat aus dem Buch "Siddhartha" von Hermann Hesse. Dieses Zitat schmückt seit einiger Zeit unsere Homepage. Jetzt denke ich daran. Es ist eigentlich eine Lebenseinstellung. In dem Roman wird Siddhartha gefragt, was er für Fähigkeiten hat. Er antwortet nur, dass er denken, warten und fasten kann. Sonst nichts. Aber das ist nicht nichts, sondern alles. Mit diesen drei Fähigkeiten kommt er durchs Leben und findet irgendwann zu sich selbst. Er kommt an sein Ziel. Er findet heraus, wer er ist und was er wirklich will. Das gilt für das ganze Leben. Das gilt auch für den Marathon.
"Ich kann denken." Denken ist beim Marathon ganz wichtig. Man benötigt einen Fahrplan für die Strecke. Und muss sich auch daran halten. Der Kopf muss wach bleiben. Wenn man einschläft und vergisst, dass man gerade einen Marathon läuft, verschenkt man Zeit. Man wird langsamer und trottet nur noch vor sich hin. Ist mir in Amsterdam passiert. Im Wald ist das Fliegen lassen der Gedanken schön und ein Grund überhaupt zu laufen, aber nicht beim Marathon.
"Ich kann warten." Warten ist genauso wichtig. Der größte Fehler ist zu schnelles Angehen der Strecke. Man muss warten und sich im Zaum halten. Lieber zu langsam als zu schnell. Kohlenhydrate sparen. Für die letzten 10 Kilometer.
"Ich kann fasten." Jeder, der die letzten Kilometer beim Marathon mal so richtig gekaut hat, weiß, was fasten oder aushalten bedeutet. Der weiß, wie lang ein Kilometer sein kann. Wie unendlich lang. Habe ich in Hamburg erlebt. 25 tolle Kilometer. Hammerschlag. 17 Kilometer Fasten... Mit diesen drei Fähigkeiten kommt der Marathoni zum Ziel. Doch eine fehlt noch: "Sprach Siddhartha: Ich kann laufen."
Während ich über Siddhartha nachdenke, wird mir klar, dass ich genau das gerade mache, was ich eigentlich nicht will. Ich lasse gerade meine Gedanken fliegen und bin bei Siddhartha. Und nicht beim Marathon. Auweia. So ist das. Schlaue Sprüche und selbst nicht besser.
Also die Gedanken wieder zurück zur Strecke. Kilometer 33 oder so. Langsam wird die Strecke immer bergiger. Die Oberschenkel werden immer härter. Und schmerzen. Aber die Schmerzen kann ich aushalten. Nur, es fühlt sich mehr nach Krampf an. Und das ist gefährlich. Wenn ein Krampf erst mal richtig da ist, hat man keine Chance mehr. Berge rauf und runter. Runter ist schlimmer. Die Beine brennen. Aber immer weiter. Ich lese ein Schild: "Der letzte Berg..." Und dahinter ganz klein: "...in Gelsenkirchen." Sehr witzig. Da lache ich drüber, wenn ich mal mit dem Auto hier bin.
Ich nehme jetzt jede Trinkstelle mit und schütte alles in mich hinein, was ich bekommen kann. Cola, Apfelschorle, Wasser, alles, was kommt. So laufe ich weiter. Immer darauf bedacht, keinen Krampf zu bekommen. Dann kommt endlich die Steigung, die wir gestern aus dem Auto gesehen haben. Jetzt ist es nicht mehr weit. Die letzte Kurve. Das Ziel in Sicht. Zuschauer ohne Ende. Lärm bis zum Umfallen. Der Fanclub schwingt die Kuhglocken und schreit mich an, treibt mich ins Ziel. Ich sehe mich selbst auf einer großen Leinwand und rede mir ein, dass das noch gut aussieht, was da angekrochen kommt. "Sprach Siddhartha: Ich kann mir selbst was vormachen."
Zieleinlauf. Geschafft. 3:51:13 h. Langsamer als geplant. Egal. Nach Medaille, Folie und trinken, trinken, trinken geht´s zur Massage. Ich muss etwas warten. Aber das kann ich ja. "Sprach Siddharta:...."
Drei Läufer sind vor mir und sitzen auf dem Boden. Ich versuche es auch, mich hinzusetzen. Und bekomme sofort einen Wadenkrampf. Endlich. Ich halte mich an irgendeiner Schulter fest und stöhne lauter als ich zugeben möchte. Soviel zum Aushalten, zum Fasten... Nach 2 Minuten (oder 20 Minuten?) löst sich der Krampf und ich beschließe, stehend auf meine Massage zu warten. Danke an die unbekannte Schulter.
Die Massage ist klasse. Das lockert und entspannt. Danach hole ich meine Tasche, ziehe mich um und treffe Michael. Er ist noch recht fit. Und hat eine Zeit von unter 3:40 h. Unglaublich. Ganz herzlichen Glückwunsch.
Volker ist auch ziemlich fertig und kommt nach gut 4:06 h ins Ziel. Jetzt fehlt nur noch Dirk. Der Fanclub sagt, dass Dirk beim Treffpunkt auf der Hälfte der Strecke schon ziemlich angeschlagen war. Aber er kämpft sich tapfer bis ins Ziel. Sein erster Marathon. Gefinisht. In 4:41:54 h. Auch ganz herzlichen Glückwunsch.
Alle sind gesund angekommen. Die Hauptsache. Michael hat eine neue Superzeit auf seinem Konto. Volker macht nach zwei Stunden schon wieder Kniebeugen. Telefonat am Montag: "Hallo Dirk. Wie geht´s deinen Beinen?" Antwort: "Welchen Beinen?" Galgenhumor.