Am Wochenende waren Laura, Norbert und ich zu Gast beim Gondo Marathon in der Schweiz. Wie kann es eigentlich sein, dass bei einem so phantastischen Lauf, neben den Ultraläufern nur 30 Marathonis am Start stehen?
Wo sind die ganzen Trailer, die behaupten, in der Schweiz sei alles so kommerziell und man bekomme nichts für sein Geld? Beim Gondo Marathon erhalten wir für reelles Geld super Verpflegung, auf und neben der Strecke, (auch Unterkunft kann gebucht werden), professionelle Zeitmessung, herzliche familiäre Atmosphäre, eine perfekte Streckenmarkierung und für jeden Finisher ein Geschenk.
Wo sind die gut trainierten Adrenalinjunkies, die sich gerne mal in unwegsamem Gelände den Kick geben? Die Strecke wird als schwierig eingestuft, hat 2000 Höhenmeter und lässt an Abwechslung nichts zu wünschen übrig.
Wo sind die Naturliebhaber, die auf abgelegenen Wegen Ruhe suchen? Mir sind auf der ganzen Strecke bei gutem Wetter höchstens 10 Wanderer, dafür tausende von Schmetterlingen begegnet.
Ich kann als Entschuldigung anführen, dass ich bisher dachte, man müsse in Gondo zwei Tage hintereinander laufen, was nie in den Zeitplan gepasst hat. Aber nein. Hier kann man ebenso ganz normal einen einzelnen Marathon bewältigen und, wenn man möchte, am 2. Tag mit seinen gut trainierten Liebsten nochmal die Höhepunkte der Strecke beim Gondo Plausch erleben. Der ist sogar für Kinder ab 12 Jahren geeignet.
Für uns beginnt das Wochenende mit der Anreise nach Gondo am Freitag. Gespannt betrachten wir die Gegend vom Auto aus, denn man kommt ja von Brig bereits über den Simplon Pass. Daher kann man Teile der Laufstrecke, zu erkennen an den weißen Bändern, schon einsehen. Es ist drückend heiß und auf dem Pass schattenlos.
Trotz unwirtlicher Bedingungen sind auf dem Simplonpass schon vor 9000 Jahren erste Siedlungen errichtet worden. Im Mittelalter waren es dann die Händler, die geeignete Wege bauen ließen. Im 17. Jahrhundert griff Kaspar Stockalper einen bereits bewährten Weg auf und baute ihn von Brig über den Simplonpass nach Gondo an der italienischen Grenze zu einer sicheren Handelsverbindung aus.
Napoleon ließ später dann die erste befahrbare Straße der Alpen über den Simplonpass bauen, die im 19. Jahrhundert als Kantonsstraße übernommen wurde. Erst in den 1960er Jahren wurde die neue Nationalstraße mit Tunneln und Lawinenschutz errichtet.
Der vom Stockalper betriebene Saumpfad, einschließlich der damals gebauten Gebäude, wurde in den 1990er Jahren aufwendig renoviert und als Kulturwanderroute reaktiviert.
Zum Gedenken an den 14. Oktober 2000, als ein gewaltiger Erdrutsch das Dorf Gondo verschüttete und dabei 13 Menschen ihr Leben verloren, findet seit dem Jahr 2002 jeweils am ersten August-Wochenende der Internationale Gondo Marathon statt. Dabei handelt es sich um einen Zweitageslauf (Doppelmarathon) über eine Distanz von insgesamt 84 Kilometer und 4200 Höhenmeter.
Weil ich kein Fan von Matratzenlager bin, haben wir, nach der ersten Nacht im Stockalperturm in Gondo auch in Ried-Brig im Voraus ein Hotel in Startnähe gebucht.
Am nächsten Morgen finden wir uns pünktlich nach dem Frühstück (Buffet für alle im Stockalperturm) auf dem Rennareal unterhalb des Ortes ein. Es hat geregnet, dicke Wolken hängen im Tal. Das Gepäck ist schnell beim LKW abgegeben und wir lauschen aufmerksam den Ausführungen von Rennchefin Brigitte Wolf, die letzte Hinweise zur Streckenmarkierung und der bevorstehenden Flussüberquerung gibt. Dann gibt der Gemeindepräsident Squaratti den Startschuss, und das Rennen beginnt.
Es geht gleich steil bergauf. Für mich ist Laufen hier keine Option. Daher bin ich ziemlich schnell nach hinten durchgereicht. Das war mir aber schon vorher klar, denn ich will den Lauf nur innerhalb der Cutoff Zeiten beenden. Wir laufen in dem kleinen Ort auf der Hauptstraße bergauf. Obwohl es sich um eine Europastraße nach Italien handelt, ist sie jetzt für den Verkehr gesperrt. Oberhalb der letzten Tankstelle geht es auch schon rechts auf den Stockalperweg. Dieser uralte Saumpfad, (ein Handelsweg der nur mit Lasttieren zu begehen war), führt oberhalb der Straße entlang. Schnell wird der Weg schmal, eine eiserne Brücke führt über die Doveria, ein beeindruckender Wildbach, der hier über die Jahrtausende die enge Gondoschlucht gegraben hat.
Der Hang ist voll Schotter, kleinen Steinen und großen Felsen, Zeichen für viele Felsstürze in diesem Gebiet. Über eine Treppe gelangen wir hinauf zum Fort Gondo. Der Stockalperweg führt 350 m durch den Verbindungsstollen der Festung. Ursprünglich im 19 Jahrhundert gebaut, wurde das Fort im 1. und 2. Weltkrieg eine wichtige Verteidigungsanlage gegen Hitlers Armeen. Gleich am Eingang steht ein beachtliches Geschütz, drinnen ist es angenehm kühl.
Es geht noch mehrfach über eisernen Gitterbrücken, unter uns tost die Doveria. Obwohl ich keine Brücken mag, macht mir das hier nichts aus. Die Natur ist so atemberaubend, dass ich mich nicht durch Ängste ablenken lasse.
Es geht ein kurzes Stück auf Asphalt. Sehe ich recht? Vor mir auf einer Brücke scheint die erste Verpflegungsstation. Ja, es gibt bei km 3 schon Wasser, Cola, Iso und Bananen. Gerade als ich dort eintreffe, sehe ich Norbert weglaufen. Von Laura, die nach dem Start schon Gas gibt, ist nicht zu sehen.
Es geht nun sein Stück auf Gras zwischen Doveria und Straße entlang, wobei diese hier unter Lawinenverbauungen versteckt ist und kaum stört. Die Felswände kommen nun dicht heran, unser Weg läuft auf einer schmalen Fußgängerbrücke weiter. Seitliche Gitter und Handläufe sind massiv, ich fühle mich völlig sicher. Die Schlucht ist so schmal, ich könnte die Felswände fast berühren.
Das Tal wird nun langsam weiter, auf dem gegenüberliegenden Ufer der Doveria leuchtet grüner Lärchenwald. Eine Brücke bringt uns schnell hinüber und wir finden uns auf einem schmalen Singletrail bei km 5. Ich erreiche eine grüne Almwiese, wo ein altes Gehöft augenscheinlich immer noch bewirtschaftet wird. Durch Lärchenwald gelange ich immer weiter nach oben und kann bereits den Weiler Gabi erkennen. Es geht weiter zwischen alten Steinhäusern bergauf.
Gudrun und Hans überholen mich. Sie sind aus der Nähe von Stuttgart. Ich versuche dran zu bleiben, aber es gelingt mir nicht. Bald sind sie im Nebel verschwunden. Tschüss bis später!
Erst über Wiesen, dann an der Straße entlang erreiche ich Simplon Dorf auf 1476 m Höhe. Hier offerieren die Helfer an der VP bei km 8 nun zusätzlich Salzbrezeln, Riegel, Orangenschnitze und Linzer Torte. Ich bin schon ordentlich hungrig und bediene mich ausgiebig.
Weiter oben geht es durch einen märchenhaft anmutenden Lärchenwald; hinter jedem der riesigen bewachsenen Felsen könnte eine Fabelgestalt verborgen sein. Es ist unglaublich still und fast habe ich Angst, mit meinen Schritten die perfekte Einsamkeit zu stören.
Auf der folgenden Straße feuert mich ein bergauf schnaufender Radler an, im nächsten Weiler ein Einheimischer aus seinem Garten. Fast hätte ich den Abzweig durch die eng stehenden Häuser übersehen. Am kleinen Kirchlein des Heiligen Johannes vorbei laufe ich auf Wiesenweg.
Eine Brücke wird überquert, dahinter hat mich der Stockalperweg wieder. Der Wald tritt zurück, der Pass scheint nicht mehr weit. Der Weg ist nun mit ca 50 cm hohen Mäuerchen umgeben und rustikal gepflastert. Die Steigung ist moderat, wir kommen gut voran. Immer wieder werden Almflächen durch Lärchenwäldchen unterbrochen. Kühe weiden rechts und links, ihr Glockengeläut liegt permanent in der Luft.
Unmengen bunte Blumen blühen, Insekten schwirren, Grillen machen Lärm, immer wieder kreuzen kleine Bächlein den Weg. Mitten durch die blühenden Wiesen hat die breite Doveria. Ihr Bachbett. Es ist traumhaft.
Das Barralhaus, 1902 als Ferienhaus für die Missionsgesellschaft Bethlehem auf 1844 m Höhe errichtet, und das alte Hospiz kommen in Sicht. Während das Barralhaus durch seine gewaltige Breite auffällt, gleicht der Hospizbau eher einem Turm. Er diente als Schutzunterkunft für die Reisenden und wird heute zusammen mit dem Barralhaus als Truppenunterkunft für die Schweizer Armee gebraucht.
Durch den Nebel ist die Passhöhe nicht zu sehen. Fast mannshohe rosafarbene Weidenröschen setzen Farbakzente, graue Felsplatten kontrastieren zum grün von Sträuchern und Wiese. Die Passstraße läuft oberhalb, ich kann sie gut ausblenden.
Bei km 17 erreiche den VP auf der Passhöhe. Rennchefin Brigitte ist ebenfalls Vorort. 4 Stunden hat man bis hierher Zeit. Ich habe noch 45 Minuten, lasse ich mir die Leckereien schmecken und fülle meine Flasche auf. Dann verlasse ich den gastlichen Ort. Eine sumpfige Passage beschert mir feuchte Füße, macht aber nichts, ich bin relativ blasenresistent und warm ist es ja nach wie vor.
Nun führt der Weg immer höher und höher, wobei die Steigung eher moderat ausfällt. Auch der Untergrund macht Freude, steinige Passagen wechseln mit Grasboden. Wie von Geisterhand lichtet sich der Nebel und ich habe einen herrlichen Blick auf den Weg vor und hinter mit. Wow, was für eine Wahnsinnsstrecke.
Überrascht stehe ich vor einem Riesenfelsen. Der Weg ist eindeutig markiert, ich muss hier hinauf. Problem: links geht es steil bergab, ich darf gar nicht hinschauen. Jetzt bloß nicht lange überlegen, Fotoapparat weggepackt und hoch. Mit zitternden Knien stehe ich oben. Ich lobe mich selber: „Gut gemacht.“
Ein sehr schmaler Pfad führt nun leicht abschüssig den Hang entlang und endet an einem herabfallenden Bächlein mit steilen Wänden rechts und links. Also wieder die Kamera weggepackt und mit Händen und Füßen darüber hinweg. So geht das noch einige Male, ich verliere unglaublich viel Zeit. Zusätzlich merke ich, wie die Kraft nachlässt. Irgendwann muss ich bergauf und erreiche ein herrliche Hochalm. Schneereste zeigen, dass wir schon ganz schön hoch sind. Auf unwegsamen Pfad geht es bergab. Sarah holt mich ein. Dankbar hänge ich mich an ihre Versen.
Bald haben wir einen breiteren Wanderweg erreicht, der ganz gut zu laufen ist. Der letzte Anstieg auf den Bistinenpass zehrt noch einmal an den Kräften, dann sind wir oben. Hier gibt es auf 2414 m Höhe eine VP mit Trockenfrüchten. Das ist genau das Richtige. Ein niedlicher Tümpel vor dem Kriegermonument macht das Gipfelglück perfekt. Nach kurzer Pause bin ich wieder bei Kräften und mache ich mich an den Abstieg.
Das geht auch richtig gut. Das Gefälle ist moderat, der Untergrund ok. Oh je, das steht eine große braune Kuh mit mächtigen Hörnern auf dem Weg. Sie hat wohl mehr Angst als ich und macht mir Platz. Glück gehabt.
Obwohl ich gut vorankomme, kann ich mit Sarah nicht mithalten. Dafür sammle ich das Schwabenpaar Gudrun und Hans wieder ein. Wenn ich in ihrer Altersklasse noch so fit bin, freue ich mich.
Nun wird es aber steil, das traue ich mir nicht zu laufen. Langsam jogge ich hinunter. Ob das gutgeht? Meine Beine machen zu. Trotz einiger Wolken brutzelt die Sonne vom Himmel. Also Mütze auf. Es geht über eine Blumenwiese mit Grashüpfern und Schmetterlingen in allen Farben. Hier ist ein Paradies für Insekten. Ich muss aufpassen, keine zu zertreten.
Endlich wird es flacher und ich erreiche die VP bei km 28. Erst mal muss ich verschnaufen, dann essen und trinken. Mit einem Stück Linzer Torte mache ich mich auf den weiteren Weg ins Nanztal, durch das das Bächlein Gamsa später in die Rhone fließt. Wenn sich der Wald öffnet, hat man eine grandiose Aussicht auf die tiefe Schlucht unter uns.
Wir mäandern langsam nach unten, ich kann sogar wieder laufen. An der VP bei km 35 hab ich Sarah, Beat und Wendel wieder eingeholt. Noch 7 km und es geht eine bequeme Straße hinunter. Das wird eine richtig gute Laufzeit. Mein Hochgefühl hält nicht lange an. Die bekannten blauen Pfeile weisen nach links auf einen steilen Trail. Hilft nichts, ich muss da runter.
Der Wald öffnet sich, Brig liegt unter uns. Unser Ziel Ried müsste sich noch oberhalb befinden. Es wid nun richtig heiß. Gut, dass ich mit Gel und Wasser gut versorgt bin. Ah, endlich wieder eine Straße. Ich atme auf, Ried-Brig liegt vor mir auf einer Anhöhe.
Der nächste Trail beginnt ganz angenehm, wird dann abernochmal schwierig. Abfallende Geröllfelder, wurzelige, steile Passagen und nette Teilstücke wechseln sich ab. Ich juble über die Straße, die mich nun endgültig nach Ried bringen wird. An einem Brunnen halte ich den Kopf unter Wasser, mir ist heiß.
Au Mann, es geht schon wieder auf einen Trail. Ein Warnschild verheißt nichts Gutes, und so ist es auch. Ich kann nicht mehr! Hoffentlich komme ich wenigstens um die Flussdurchquerung der Saltina herum. Obwohl die Abkühlung sicher ganz nett wäre, befürchte ich, dass der Fluss heute mehr Wasser führt als normalerweise um diese Jahreszeit. Ich sehe kurz die Brücke unter mir. Da sind Leute drauf, ich scheine Glück zu haben.
Nichts da, Seile führen mich zur Furt. Ich muss durchs Wasser zum anderen Ufer. Aber warum, die Brücke ist doch ok? Das Unwetter und der Bergrutsch, der am 14. Oktober 2000 zur eingangs erwähnten Katastrophe führte, riss auch diese Brücke weg. Sie war auch noch nicht wieder aufgebaut, als 2002 das erste Gondo Event stattfand. Man musste durch das kalte Wasser. Und so soll es auch künftig bleiben.
Feuerwehrleute feuern mich an. Das Wasser ist erfrischend, ich kann aber den Untergrund nicht sehen, das Wasser schäumt zu heftig. Ein beherzter Schritt auf gut Glück und ich stehe knietief im Wasser, die Strömung zieht und zerrt an mir. Nur nicht stehen bleiben. Ich schaffe es dann doch ganz gut und bin mächtig stolz. An der VP werde ich gefeiert.
Klettern ist angesagt, eine senkrechte ca 10 m hohe Wand aus lockerem Gestein muss ich hoch. Wegen der nassen Klamotten bin ich schnell mit einer Dreckschicht überzogen. Noch ein kleines Stück im Wald bergauf, über ein Bächlein, dann kann ich die ersten Häuser von Ried-Brig erkennen.
Ein Einheimischer ruft: „Bravo, noch 1250 m dann hast Du es geschafft.“ Hoffentlich stimmt das, ich bin platt. Auf der flachen Straße laufe ich wie auf Eiern. Dann kommt tatsächlich das 1000 m Schild, dann im Ort noch eines mit 500 m und endlich das 100 m Schild. Auf der Digitaluhr läuft die Zeit herunter. Punktlandung 8:29,55. Genau im Limit.
Das gemeinsame Abendessen ist in der Turnhalle beim Ziel in Ried-Brig ein. Hier wird vom ortsansässigen Partyservice ein Buffet vom Feinsten aufgefahren. Ein Getränk ist inklusive und sogar an Nachtisch ist gedacht. So kann man einen ereignisreichen Tag stimmungsvoll ausklingen lassen.
Am nächsten Morgen dürfen die langsameren Läufer eine Stunde früher, also um 7 Uhr starten, gemeinsam mit der führenden Frau und dem schnellsten Mann. Die weiteren Platzierten gehen per Jagdstart entsprechend ihrem Rückstand auf die Strecke. Um 7Uhr30 startet der Rest.
Wie erwartet führen die ersten Kilometer bergauf. Schnell bin ich wieder bei den Letzten. Obwohl ich mich noch richtig kaputt fühle, geht es erstaunlich gut. Es ist noch kühl, nach klarer Nacht hat die Sonne so früh noch keine Kraft. Wir haben schon ganz ordentlich Höhenmeter gemacht, als die Straße zum Schotterweg und dann zum Trail wird. Schritt um Schritt steige ich nach oben. Die ersten schnelleren Läufer holen mich ein, grüßen und laufen leichtfüßig weiter.
Erstes Highlight heute ist die Querung eines Felssturzes über hölzerne Brücken. Der Blick zurück beeindruckt mich enorm. Oben angekommen, stehen Fans und warten auf ihre Läufer. Hier verläuft ein asphaltierter Streckenabschnitt neben der Nationalstraße. Auf Asphalt geht es ein gutes Stück rasant bergab bis zur VP bei km 3. Heute nehme ich gleich ein Iso und auch für Linzer Torte ist es nicht zu früh. Ein Feldweg führt bergauf.
Es folgt ein für mich perfekter Weg aus Wald- und Wiesentrail, wellig aber tendenziell bergauf. Ich fühle mich gut, genieße den Morgen und freue mich über die Grüße der gut gelaunten Läufer, die mich überholen. Bergab kann ich mich sogar dranhängen.
Wir gelangen erneut auf eine Schotterstraße an der Saltina entlang, die hier noch Ganterbach heißt. Vor uns baut sich die gewaltige neue Ganterbrücke auf. Diese Brücke ist 678 m lang, in der Mitte 174 m hoch und ist in S-Kurvenform gebaut. Damit nicht genug, beträgt die Steigung der Brücke im Schnitt 5 %. Unglaublich, die Schweizer können nicht nur Tunnels, sondern auch Brücken.
Etwas weiter flussaufwärts zieht dann die Alte Ganterbrücke die Blicke auf sich. Die Ganterbrigga stammt noch aus der Zeit Napoleons und hatte, damit sie im Bedarfsfall schnell zerstört werden konnte, einen Mittelteil aus Holz. In Friedenszeiten wurde ein steinerner Bogen eingebaut. Auch hier feuern uns Zuschauer an. Beim VP haben die Helfer alle Hände voll zu tun. Ich greife mir alles, was ich brauche und stürze mich auf dem Trail bergab. Wie gesagt, runter komme ich mit den anderen ganz gut mit. Erst geht es durch Wald, dann über eine große Alm. Die Kühe hier schauen neugierig. Wieder im Wald, ist der Pfad ein Traum. Weicher Waldboden, kleine Brückchen - ich bin in meinem Element. Meinen Mitstreitern geht es wohl ebenso. Immer wieder kommen Schnellere von hinten angeflitzt und bedanken sich höflich, wenn ich ihnen Platz mache.
Gerade springe ich wieder zur Seite, als die Läuferin plötzlich stehen bleibt. Es ist Laura. Meiner Tochter scheint prächtig zu gehen. Schnell ein Selfie gemacht, dann prescht sie weiter. „Papa wird auch gleich da sein!“ ruft sie mir noch zu, dann ist sie auch schon hinter der nächsten Kurve verschwunden.
Tatsächlich dauert es aber noch bis zum nächsten steilen Anstieg, bis mich Norbert einholt. Ein kurzer Gruß, dann ist er weg. Es geht nun gefühlt etliche Kilometer und einige Höhenmeter nach oben bis wir die Nationalstraße erreichen. Auf dem Grasstreifen an der Straße ist nicht viel Platz, aber letztlich besser als auf der Straße.
Ich sehe schon von weitem die nächste VP, als mir plötzlich schmerzhaft der Fuß weg knickt. Sch….lecht! Den Schmerz ignorierend, steige ich die letzten Meter zur Verpflegung bei km 13 hinauf. Erst mal ein Iso und ein Becher Cola auf den Schreck, ein Riegel und ein Stück Kuchen auf die Hand. Wo geht es weiter?
Während ich die Straße hinunter trabe, wird mein Fuß wieder besser - noch mal Glück gehabt. An einer Hütte vorbei geht es wieder auf einem Trail bergab. Vor mir tauchen unvermutet Gudrun und Hans, unsere neuen Bekannten aus der Heimat, auf. Es ist etwas steinig und die Beiden haben ihr Tempo den Gegebenheiten angepasst. Weil ich weiß, dass sie mich sowieso gleich wieder einholen, ziehe ich vorsichtig vorbei.
Ich erreiche das Flüsschen Taferna, das hier ein reizendes Naturparadies geschaffen hat. Üppige Vegetation direkt am Bachbett und scheinbar unberührter Wald machen das Teilstück zu einem wunderbaren Erlebnis. Auf zwei wackeligen Holzbrücken geht es auf die andere Flussseite und dort den Berg hinauf. Ich falle wieder in Steigmodus, und schon kann ich Gudrun und Hans von unten kommen hören. Auch Sarah und hinter ihr die Besenläuferin sind nahe.
Wir überholen jetzt Heidi und den Besenläufer vom Gondo Plausch. Dieser 26 km Lauf ermöglicht es auch Wanderern und nicht so Trainierten, die Höhepunkte des Gondo Marathon mitzuerleben. Wir wünschen uns gegenseitig noch viel Spaß, aber dann muss ich weiter.
Rennleiterin Brigitte kommt uns entgegen und fragt nach dem Befinden. Uns geht es super, denn wir sind noch gut in der Zeit. Gleich verlassen wir auch den Wald, das letzte Stück geht noch über Wiesen, dann haben wir die Passhöhe des Simplon bei km 19 erreicht. Bis zum Cutoff hier um 12 Uhr ist es noch eine dreiviertel Stunde. Das geht ja besser als gedacht.
Ich mache eine kurze Pause und versuche mich zu orientieren. Ohne den Nebel sieht hier alles ganz anders aus. Nun sehe ich auch den mächtigen Simplon Adler, der hier während des 2. Weltkriegs aufgestellt wurde. Beeindruckend thront er auf einer Erhöhung.
Nun folgen ca 9 Kilometer bergab auf der Strecke, die wir vom Vortag kennen. Herrlich, dass ich das heute ohne Nebel erleben darf. Das turmähnliche Hotel Restaurant Monte Leone grüßt von links, rechts oben liegt der Saumpfad zum Bistinenpass, auf dem ich gestern zu kämpfen hatte.
Weiter unten am künstlich angelegten Rotelsee genießen einige Touristen das schöne Wetter. Die Aussicht auf altes Hospiz und Barralhaus ist eine Wucht. Ohne mich anzustrengen jogge ich gemütlich bergab. Bei km 23 direkt an die Straße gibt es wieder Verpflegung. Schnell einen Becher greifen, einen Riegel auf die Hand, und weiter auf den schönen und anspruchsvollen Trail.
Der nächste Stopp liegt in Simplon Dorf, wo Brigitte sich nach meinem Befinden erkundigt. Ich bin voll im Plan. Sogar schneller als erwartet erreiche ich Gabi, wo am Bächleine Lagina die VP bei km 30 liegt. Hier gibt es einen cutoff um 14 Uhr, von dem ich noch eine Stunde entfernt bin. Wer diesen nicht schafft, tritt den kurzen Rückweg durch die Gondo Schlucht an.
Ich verpflege mich gründlich und erkundige mich bei den Helfern nach dem letzten Berg. „Die Furgga kann man von hier nicht sehen,“ wird mir beschieden. „Es geht jetzt aber 3 km steilst bergauf.“ Vor dem Aufstieg ist mir nicht bang, eher vor dem darauf folgenden Abstieg. Nochmal so ein Ritt wie gestern kann ich meinen Beinen nicht zumuten.
Aber erst mal geht es flach in der mir angezeigten Richtung auf einem gemütlichen Wanderweg, dann über eine Brücke. Ich hab schon fast einen Kilometer, dann scheint der Anstieg vor mir zu liegen. Weil ich auf Schlimmes eingestellt bin, finde ich es nicht dramatisch. Schnell gewinne ich Höhe und habe bald einen tollen Blick übers Tal.
Auf einer Holzbrücke entspanne ich kurz die Beine. Über mir sehe ich eine Hütte. Schnell habe ich sie erreicht, schnell an ihr vorbei und bald liegt sie unter mir. Der Untergrund ist trocken und fest, ich habe keine Probleme. Als ich denke es wird flacher, sehe ich über mir das nächste Gebäude. Mein Pfad führt nahezu senkrecht die Wiese hinauf geradewegs darauf zu. Auf der Alm blüht es in allen Farben, Schmetterlingen und Insekten flattern und schwirren umher.
Nächste Station ist eine kleine Kapelle. Wie schön es hier ist! Ich werde zusätzlich durch einen flachen Wiesenweg belohnt und frage mich, wie lange der Aufstieg wohl noch dauert. Ich bin schon eine Stunde unterwegs und kann den Gipfel nicht sehen. Zwei Mountainbiker kommen von oben und rufen: „Noch ein Kilometer!“ Gerade weiß ich nicht, ob mich das motivieren soll.
Der Weg verläuft nun tatsächlich etwas flacher, dafür werden einige Höhenmeter mit hölzernen Treppen überwunden. Noch einmal geht es senkrecht eine Almwiese hinauf, dann werde stilvoll von einem Hornbläser empfangen. Die getragene Melodie bleibt mir lang im Ohr. Ich bedanke mich herzlich als gleich eine Helferin angerannt kommt, um mir das Viehgatter zu öffnen.
Ich werde überschwänglich begrüßt: “Wia geits?“ Natürlich gut. 33 km habe ich geschafft. Zunächst ist der von mir gefürchtete Abstieg moderat. Nach einiger kommt es mir komisch vor, weil es gar nicht hinunter gehen will. Muss ich das noch büßen?
Wir laufen quer zum Hang auf schmalen Wegen. Immer wieder kommt ein Bächlein, manchmal nur über eine Brücke zu passieren. Jede Kurve bietet Überraschungen und neue Herausforderungen. Dabei ändert ständig die Vegetation. Am Hang meist Magerwiese oder Wald, bei den Bächen Sumpfpflanzen und Farne, dazwischen Schotterfelder. Gut, dass ich genügend Zeit habe, um das alles zu genießen.
Mitten im Wald sehe ich die Wallfahrtskapelle Maria Bru und vor mir einen Stausee. Das Schlimmste scheint hinter mir zu liegen. Der Weg ist nun so flach, dass ich abschnittsweise wieder laufen kann. Bald liegt der Stausee hinter mir. Einige Treppen bringen mich nach unten auf die Straße. Unvermutet liegt hier die VP bei km 38. Die Helfer beglückwünschen mich zur tollen Leistung. Ein Wanderschild informiert mich, dass es noch 1h45 bis Gondo wären. Nanu, wie kann das ein, für 4 km bergab? Ich habe bis zum Zielschluss noch 50 Minuten. Das muss doch reichen!
Ich habe noch Kraft und kann locker laufen. So hatte ich mir das gewünscht. In Gedanken bin ich bereits im Ziel, als der Weg rauer wird. Geröllfelder, Wurzelpassagen, steil geht es rauf und runter. Wir doch noch die Zeit knapp?
Ein Schild signalisiert noch 1500 m und ich habe noch 15 Minuten. Das kann reichen, es geht die Straße hinunter. Es läuft, noch 1000 m. Zu früh gefreut, der nächste steile Trail wartet. Steintreppen hinunter sind ok, am Geröllfeld muss ich jedoch langsam tun. Gondo liegt unter mir. Ich klettere über Felsen, dann geht es nochmal steil bergab. 17 Uhr – Zielschluss! Noch 500 m.
Der Trail wird etwas besser, zweimal überquere ich die Straße, dort entlang würde es vermutlich schneller gehen. Noch 100 m. Wo soll hier das Ziel sein, ich bin mitten im Wald. Noch ein letztes steiles Stück, über den Spielplatz, Vater und Sohn feuern mich an, dann über die Brücke und ins Ziel.
Obwohl ich 10 Minuten zu spät bin, werde ich lautstark begrüßt. Norbert bringt mir ein Bier, Brigitte gute Wünsche. Sarah ist schon lange da, Laura noch länger, nur unsere schwäbischen Freunde Gudrun und Hans fehlen noch. Jeder Finisher bekommt einen Walliser Käse, Laura für den 2. Platz ihrer Altersklasse Wein.
Dieses Wochenende wird uns noch lange in Erinnerung bleiben. Hätte ich doch auf die vielen Laufberichte meiner M4Y-Kollegen gehört, wir wären schon viel früher beim Gondo Marathon gestartet. Hier stimmt einfach alles.
Fazit:
Der Gondo Marathon ist meiner Meinung nach ein Muss für jeden bergtüchtigen Marathoni und Trialläufer. Aber Vorsicht: Wer einmal da war, kommt wieder. Wenn nicht wegen der zwei herrlichen, perfekt organisierten Bergmarathons in genialer Landschaft, dann wegen dem Simplon-Käse, den jeder Finisher überreicht bekommt.