Für Astrid - Berlin, Karsamstag 2022.
Schon zum achten Mal nehme ich an Etzes Vollmondmarathon teil. Etze, das ist Frank-Ulrich Etzrodt, der mit seiner Frau Evelyn („Evi“) und der Laufgruppe Saatwinkel den Vollmondmarathon organisiert. Und weil es so schön ist, gleich zweimal im Jahr, einmal am Karsamstag die Oster-Edition und noch ein zweites Mal im Sommer.
Seit meiner ersten Teilnahme Ostern 2016 lässt mich dieser schöne Landschaftsmarathon an der Havel in Berlin nicht mehr los. Meine Zeiten waren eher mau, aber das Erlebnis umso schöner. Dieses Jahr will ich allerdings mal wieder eine gute Zeit hinlegen. Doch von nix kommt nix. Also bleibt es mir nicht erspart, konsequent zu trainieren. Der Januar war grandios, ich war auf dem besten Weg, mich der 4-Stunden-Grenze wieder zu nähern. Doch dann: Muskelfaserriss. Die Quittung für mein notorisches Verweigern des Stretchings.
Februar Laufpause, März der Wiedereinstieg ins Training, einziger „langer“ Lauf vor dem Marathon 14 km am Sonntag zuvor. Beste Voraussetzungen also für eine erfolgreiche Marathonteilnahme. Nachdenklich mache ich auf den Weg nach Tegel zum Start. Nachdenklich aber nicht nur aufgrund meiner Form.
Meine Gedanken schweifen zurück zum
Vollmondmarathon Karsamstag 2021:
… Die Startnummer 06 wird aufgerufen. Diese Startnummer gehört Astrid. Wir hatten uns hier bei der Sommeredition 2020 kennengelernt. An diesem heißen Sommertag ging mir nach knapp 30 km die Puste aus. Ich verlegte mich aufs Gehen und Astrid schloss auf mich auf. Sie meinte, gehen statt zu laufen sei eigentlich eine gute Idee und schloss sich mir an. Es waren kurzweilige Stunden durch die Berliner Nacht, wir haben uns gegenseitig die halbe sportliche Lebensgeschichte erzählt und uns gemeinsam ins Ziel geschleppt. Später, auf Facebook und Whatsapp, haben wir dann Pläne für gemeinsame Mammutmärsche und Läufe gemacht. Auch Ostern 2021 wollten wir gemeinsam laufen. Dann jedoch erkrankte sie schwer. Umso überraschter bin ich nun also, als ihre Startnummer aufgerufen wird. Die kurze Hoffnung erweist sich dann jedoch als Trugschluss, denn die Nummer ist übertragen worden. …
Vor wenigen Wochen kam dann die Nachricht, dass Astrid ihren Kampf verloren hat. Oft hatte ich an sie gedacht und dabei die vielen Bilder im Kopf, die ich bei unserem gemeinsamen Lauf von ihr gemacht hatte. Immer mit einem Lächeln im Gesicht, so ist sie dort zu sehen, so werde ich sie in Erinnerung behalten.
Zurück ins hier und jetzt
Wird meine Wade halten? Welche Fitness habe ich über die Zwangspause retten können? Mit diesen Gedanken erreiche ich das Vereinsheim Hoka IV, das heutige Veranstaltungszentrum. Die Anreise ist gut in der Einladung beschrieben, handgefertigte Schilder weisen den Weg zum Start, denn Hoka IV steht für Kleingartenkolonie Nr. IV am Hohenzollernkanal. Ein mit bunten Eiern geschmücktes Bäumchen stimmt auf Ostern ein. Am Vereinsheim herrscht schon reges Treiben, etwa 60 Teilnehmer haben sich angemeldet, die Veranstaltung hätte mehr verdient.
Man kennt sich und ist in regem Austausch über die Saisonpläne. Andreas und Göran stellen fest, dass sie beide nächste Woche für Hamburg gemeldet haben. Auch ich werde an der Elbe sein, aber weiter südöstlich in Dresden beim Oberelbemarathon, dessen Veranstaltungsshirt Andreas heute trägt. Im August treffen wir uns dann wieder im Berlin beim Mauerweglauf, auf dessen Strecke wir heute einen Abschnitt zurücklegen werden. Klein ist die Welt.
Wir Läufer, egal woher stammend, sind eine friedliche Gemeinschaft und wünschen uns Frieden überall in der Welt, in der Ukraine sowie an allen anderen Orten kriegerischer Auseinandersetzungen. Die Flagge mit der Friedenstaube und eine Schweigeminute sollen dies heute zum Ausdruck bringen.
Dann folgt die übliche Streckeneinweisung durch Etze. Im Grunde ganz einfach „Wenn Ihr links kein Wasser mehr seht, seid ihr falsch.“ So langsam stellen wir uns am Start auf. Bruno, Etzes Hund, döst noch vor sich hin, er wird doch nicht den Start verpassen? Nein tut er nicht, denn wie jedes Jahr ist er beim „Startschuss“, heute mit einer Startklappe ausgelöst, außer Rand und Band. „Zielschluss“ wird nach 6 Stunden sein, Etze verspricht aber solange zu warten, bis alle im Ziel sind, hoffentlich muss ich das nicht ausnutzen. Zudem war ein Frühstart eine Stunde eher möglich, wovon auch einige Gebrauch gemacht haben.
Rund um den Tegeler See
Einige Hundert Meter lang geht es am Hohenzollernkanal entlang, dann erreichen wir die Jungfernheide. Der Name ist missverständlich, handelt es sich doch hier um einen Kiefernwald. Links, natürlich, das Wasser, jetzt ist es die Havel. Bekanntlich ist die Havel ein Fluss, der sich aber auch an einigen Stellen zu einem See erweitert, so zum Beispiel dem Tegeler See, den wir nun fast komplett umlaufen.
Wettermäßig habe ich hier zu Ostern schon alles erlebt, beinah sommerliches Wetter, aber auch Wind, Regen und Hagel. Heute ist es einfach perfekt, ein fast wolkenloser Himmel, aber mit 12 Grad nicht zu warm. Was ist schöner, das Blau des Himmels oder das der Havel? Unterbrochen wird unsere Wald- und Seenidylle gelegentlich durch einen Anlegesteg, an dem Segelboote vor sich hinschaukeln. Noch scheint die Segelsaison nicht eröffnet, oder ist es zu früh am Morgen für eine Ausfahrt?
Wir passieren die Greenwichpromenade auf einer Allee aus knorrigen Bäumen, zu leicht wird das Meer von Osterglocken rechterhand übersehen, denn links ankern die Fahrgastschiffe, darunter auch der Schaufelraddampfer „Havel Queen“. Wenige Spaziergänger sind hier, am Rande des Ortskerns von Berlin-Tegel, zu früher Stunde unterwegs. Ich liebe diese Ruhe am Rande der Stadt. Mit der wunderschönen roten Sechserbrücke, deren Namen vom ehemals zu zahlenden Wegzoll rührt, verlassen wir die Greenwichpromenade und sind zurück in der Natur.
An der Halbinsel Reiherwerder verlieren wir kurz die Havel aus den Augen, da sich in der dortigen Borsig-Villa der Auswärtige Dienst einquartiert hat. Nicht mehr weit und wir erreichen bei km 10 die erste Verpflegungsstelle. Derer gibt es heute vier, die Ausstattung ist mit Wasser, Apfelschorle, Cola, Äpfel und Bananen sowie salzigem Knabbergebäck ausreichend. Anzuraten ist jedoch, ein wenig Eigenverpflegung mitzunehmen, als Wiederholungstäter führen viele Teilnehmer ein Rucksack oder ähnliches mit sich.
Dörfliches Idyll an der Havel
Auf den nächsten 10 km reihen sich die Dörfer Tegelort, Konradshöhe und Heiligensee wie an einer Perlenkette auf. Das Feld hat sich mittlerweile stark ausgedünnt, ich bin allein unterwegs. Gespannt bin ich, was nun auf mich zukommt. Nicht was die Strecke angeht, die finde ich auch ohne die gute Markierung durch rote Pfeile und Flatterbänder mittlerweile „im Schlaf“. Sondern wie mein Körper auf die „Zumutung“ reagiert. 10 km Laufen schaffe ich, das war vorher schon klar, aber werden es auch 15 oder sogar 20 sein? Den Rest hatte ich mir vorgenommen mit Powerwalking zu absolvieren, eine Überforderung gilt es unbedingt zu vermeiden.
Zahlreiche Ausflugslokale, auf denen langsam die Tische eingedeckt werden, Einfamilienhäuser mit schönen Gärten und Bootsstege, natürlich nicht ohne dazugehörige Wasserfahrzeuge, säumen den Weg auf den nächsten Kilometern und lenken mich ab. Bald sind 15 erreicht und 20 werden doch wohl auch drin sein, oder? Alt-Heiligensee gibt mit Kopfsteinpflaster, Wiese und Dorfkirche in der Dorfmitte noch den typischen Eindruck früherer Berlin-Brandenburgischer Dörfer wieder. Und dann ist es nicht mehr weit bis zur zweiten Verpflegungsstelle bei km 20.
Vom Mauerstreifen zur Wasserstadt Spandau
Viel Zeit habe ich nicht zu überlegen, ob ich die nächsten 10 km noch laufen werde, dann werde ich abgelenkt: „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 13. Januar 1990 um 09.45 Uhr geteilt“ steht auf dem Schild, was wir kurz nach km 20 passieren. Von nun an geht es auf knapp 10 km im Bundesland Brandenburg am ehemaligen Mauerstreifen entlang – Streckenerkundung für den Mauerweglauf im August. Die Havel liegt immer noch links, natürlich, allerdings laufen wir nach einer Brückenüberquerung in Hennigsdorf kurz vor der Halbmarathonmarke nun in Gegenrichtung. Statt der tödlichen Mauer, an die Stelen, Hinweistafeln und der Wachturm Nieder Neuendorf erinnern, nun ein breiter Flanierstreifen, Anlege- und Badestellen.
Durch ein kleines Wäldchen erreichen wir wieder Berlin und einen Strand, der den Namen Bürgerablage trägt. Diese dürfen sich zwar dort hinlegen, werden aber nicht dort abgelegt, sondern früher das für die Bürger bestimmte Holz, welches über die Havel dorthin transportiert wurde. An der Bürgerablage wartet Wolfgang mit dem dritten Verpflegungsstand auf uns. Er ist Veranstalter von zwei tollen Läufen am Müggelsee im Berliner Bezirk Köpenick, dem Müggelturmlauf und dem Müggelseelauf. Zwei Geheimtipps - wen stört es, dass diese kürzer als Marathon sind? Wolfgang weiß nur zu gut, wie schwierig es ist, Helfer zu gewinnen und packt selbst mit an. Also, wenn irgendwo mal was nicht klappt mit den Verpflegungsständen: nicht meckern, selbst anpacken. Heute ist es nicht nötig und es geht weiter. Für mich nach 30 km Laufen nun aber walkend, Gesundheit geht vor.
Bald erreichen wir die Wasserstadt Spandau. Kein offizieller Name, sondern mein Eindruck. Seitdem ich am Vollmondmarathon teilnehme, ist hier unglaublich viel neuer Wohnraum geschaffen worden. Die weitverzweigten Hafenareale in Spandau wurden überwiegend aufgelassen, auf den Industriebrachen an den Hafenbecken entstanden und entstehen zahllose hochmoderne Wohnkomplexe. Nur einige habe ich exemplarisch auf die Platte gebannt, schließlich soll dies kein Architekturführer werden. Aber ein Foto muss doch sein, der umgebaute Speicher bei km 37. Seit 2016 konnte ich die Bauphasen beobachten: Entkernen, Rohbau, Ausbau, und jetzt ist er endlich bezogen. Tolle Lage mit Blick auf die Havel, was mag eine Wohnung wohl kosten?
Voller Kontrast gleich gegenüber: „der Haubentaucher“, ein rustikales Hausboot mit einer goldenen Mehrjungfrau am Haken. Ich freue mich schon auf die nun sichtbare Eiswerder-Brücke über die Havel, denn die Überquerung der Brücke läutet das Finale ein: letzte Verpflegungsstation, letzte km an der Havel und dann zurück in das Idyll am Hohenzollernkanal, ein schmaler Pfad an Kleingärten und Grünanlagen entlang, bevor es dann über eine letzte Brücke zum Ziel geht.
Geschafft…
Im Ziel erwarten mich Evi und Etze mit einer schön gestalteten Medaille mit Ostermotiv. Ein wenig stolz bin ich schon: Zeitlimit eingehalten, nicht überfordert, Wade schmerzfrei. Am Vereinsheim Hoka IV ist inzwischen ein Buffet aufgebaut, an dem ich auf Jana und Michael treffe, sie haben heute zwei Debutantinnen erfolgreich ins Ziel geführt. Chapeau! Jana und Michael haben vor, im Mai gleich zwei 100km-Läufer bzw. Märsche zu absolvieren. Ist denn hier niemand normal?
Jana ist außerdem Pressewartin des 100 Marathon Club, sofort waren wir in ein Gespräch über die Berichterstattung von Marathonläufen vertieft. Ich schließe diese ab mit einem großen Dank an die Laufgruppe Saatwinkel um Etze, die für einen kleinen Beitrag (ab 40€) eine wunderbare Laufveranstaltung auf die Beine stellt.
Karsamstag 2023 bin ich wieder dabei. Wer nicht solange warten kann, sollte sich die Sommeredition am 10. September vormerken.