Von Anfang an träumte Utz Bertschy davon, mit seinem Marathon komplett in die Stadt zu ziehen. Aus verschiedenen Gründen kam es bisher nicht dazu, bis der Termin wegen der in diesem Jahr in Bremen stattfindenden Einheitsfeiern verschoben werden musste. Blöd ist, dass am Alternativwochenende die "Hanse life" die Bremen Arena, das angestammte Veranstaltungszentrum, belegt. Oder doch Glücksfall?
Die einzige Möglichkeit, den Bremen Marathon in diesem Jahr überhaupt noch stattfinden zu lassen, ist jetzt der Umzug auf den Marktplatz. Hallo, Roland. Die Veranstalter unternehmen alle Anstrengungen, um die Chance zu nutzen.
Am Vortag ist auf dem historischen Marktplatz, Bremens guter Stube, von einer Laufveranstaltung nichts zu sehen. Die Absperrgitter sind versteckt gelagert, mit dem Aufbau beginnt man erst am späten Nachmittag. Vor jedem Gebäude steht eine Touri-Gruppe und lässt sich Geschichte und Geschichten erzählen, die Straßencafés sind trotz bescheidener Temperaturen gut besucht und auch sonst herrscht dichtes Treiben. All das will man so wenig wie möglich stören. Deshalb fällt die Marathonmesse auch etwas klein aus. Man ist damit zum Gewerbehaus (Ansgaritorstraße) gezogen, wo es auch die Startnummern gibt und leckere Nudelgerichte. Letzteres ist, genau wie das funktionelle Shirt, im moderaten Startgeld enthalten. Das Shirt ist gekonnt und mit viel Liebe gestaltet. Es zeigt den geflügelten Fuß von Gott Hermes und die Bremer Stadtmusikanten, aber auch den Marathon-Käfer mit der „einachsigen Schlafkoje“. Mit dem Gespann ist ja Michael Vondrasek für den Bremen Marathon ständig auf Promotion-Tour.
Am Sonntag dann ein ganz anderes Bild. Aus allen Richtungen strömen Läuferinnen und Läufer auf den Marktplatz, den es seit 1404, als das Rathaus gebaut wurde, gibt. Aus der Zeit stammt auch die Roland-Statue, für die, das ist in einem Rechnungsbuch so vermerkt, 170 Bremer Mark bezahlt wurden. Der Bremer Roland ist Symbol für Bürgerstolz und Freiheitssinn. Solange der Roland steht, soll die Stadt frei und selbständig sein, so die Legende. Angeblich soll es deshalb im Rathauskeller eine zweite Statue geben, die man schnell aufstellen könne, falls der Roland doch einmal fiele.
Vielleicht war das eine oder andere zuvor bei der Bremen Arena bequemer oder besser, schöner ist es allemal hier, beim St. Petri Dom, Rathaus, Unser Lieben Frauen Kirche, dem Roland, dem Haus der Bürgerschaft (Landtag), dem Schütting (Bremer Kaufmannschaft) und vielen herrlichen Giebelhäusern.
7 Grad zeigt das Thermometer, aber es ist trocken. Mit dem Umkleiden lässt man sich Zeit, zuerst gehen sowieso die 10km-Läufer auf ihre Strecke, 10 Minuten später, um 9.00 Uhr, die Marathonis, die Halben um 10.50 Uhr. Als es dann ernst wird und jeder seine Klamotten los werden will, kommen die Helfer mächtig in’s Schwitzen.
Vor ganz ansehnlicher Zuschauerkulisse geht es pünktlich los. Am Wall heißt eine der Haupteinkaufsstraßen in Bremen, die ungefähr dort verläuft, wo es im Mittelalter eine Stadtmauer gab, die, weil überflüssig geworden, um 1810 einem Englischen Landschaftsgarten weichen musste. Die ersten Kilometer laufen wir eine kleine Runde auf der Martinistraße und dem besagten Wall, immer begleitet von ziemlich vielen Zuschauern, die vom Marktplatz auf ganz kurzen Wegen an die Strecke kommen.
Nur flüchtig kann man einen Blick in die Böttcherstraße und ins Schnoor-Viertel werfen. Beides muss man gesehen haben, wenn man in Bremen ist. Die Böttcherstraße ist seit jeher die Verbindung zwischen Markt und Weser, in der vor allem Fass- (Böttcher) und Zubermacher ansässig waren. 1902, die Handwerker waren längst verschwunden, kaufte der Kaffeekaufmann Ludwig Roselius das Haus Nr. 6 (Roselius-Haus) und ließ ein Ensemble entstehen, das in der ganzen Welt für Aufsehen sorgte. Auch mit einem ganz speziellen Kaffee sorgte er für Furore. Als erstem gelang ihm 1907 die Herstellung von Kaffee ohne Koffein (Hag).
Das Schnoor-Viertel mit seinen kleinen Häusern und schmalen Gassen kommt einem ganz unwirklich vor, fast wie eine Filmkulisse. Und doch ist alles echt. Das Viertel entstand im 14. Jahrhundert und wurde hauptsächlich von Fischern bewohnt. Einer von ihnen war Heini Holtenbeen. Eigentlich hieß er Keberle, aber nach einem Unfall hatte er ein steifes Bein und so nannte man ihn Holtenbeen (Holzbein). Man sagte auch, dass er seit dem Unfall nicht mehr ganz recht im Kopf gewesen sei. Das kann ich aber nicht glauben, wenn folgende Geschichte wahr ist:
Heini ging es nicht gut und er dachte, dass er bald sterben müsse. Also bat er seine Frau auf dem Krankenbett liegend, sich hübsch zu machen, wenn ihn bald der „Düvel“ (Teufel) holt. Seine Frau gehorchte, zog ihr schönstes Kleid an und auch die Brosche, die ihr einmal ihr Mann schenkte. „Ist es so recht?“, fragte sie Heini und ließ sich von allen Seiten begutachten. „Wie schön Du bist“, seufzte er. Und dann sagte er: „Du wirst auch dem Düvel gefallen, wenn er kommt. Dann nimmt er Dich mit, und nicht mich.“
Geschäftstüchtig war er auch. Schon damals war Rauchen in der Börse verboten. Also trieb sich Heini Holtenbeen vornehmlich dort am Eingang rum und nahm den vornehmen Herren die Stummel ihrer teuren Zigarren ab. Ein paar rauchte er zu Ende, die meisten aber „recycelte“ er und verkaufte sie als Tabak.
Wenn das so weiter geht, wird der Laufbericht vom Bremen Marathon mein zweites Buch.
Keine Angst, zunächst überqueren wir die „richtige“, dann die kleine Weser und kommen von der Neustadt ins Grüne. Dort ist es ruhiger und außer dem alten Pumpwerk (km 6), das an eine trutzige Burg erinnert, gibt es nur ein paar Bootshäuser und Schrebergärten zu besichtigen. Am Werdersee, an dessen Ufer wir dann ein paar Kilometer entlang laufen, sind aber trotz des unfreundlichen Wetters viele Zuschauer. Ein Läufer kann meine Gedanken lesen. „Schönes Wetter heute“, behauptet er. „Meinst Du?“ „Ja, meistens regnet es ja und es ist windig. Nein, heute ist es schön.“ Allaa guud, denkt sich der Badner, schaut in den grauen Himmel und läuft weiter.