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OKWie alles begann
Es regnet leicht, es ist neblig und kalt, typisch November. Vor dem Schulhaus in Madretsch, einem im Süden Biels gelegener Stadtteil, treffen sich 35 Männer. Ihr Plan: 100 Kilometer laufen, gehen, marschieren. Um Mitternacht wollen sie aufbrechen. Wer kommt auf eine so verrückte Idee? Niemals hat es jemand gewagt, einen Lauf über eine so lange Distanz zu organisieren. „Es wird Tote geben,“ warnen die Skeptiker. Franz Reist lässt den Einwand nicht gelten. Sicher, seine Idee hat kein Vorbild. Aber „Angesichts der Leistung unserer Väter“ hält der Hauptmann einen Lauf über 100 Kilometer für machbar und will es beweisen.
Dicke Wollpullover und Jacken und lederne Schnürstiefel gehören zur Standardausrüstung der verwegenen Männer, meist Waffen- und Geländeläufer. Ausgeschildert ist die Strecke nicht. Es werden Zweiergruppen gebildet, jede Gruppe hat eine Karte mit eingezeichneter Streckenführung. Es geht nach Aarberg, Oberramsern, Kirchberg, Gerlafingen, Arch und Pieterlen. Dann zurück nach Madretsch. Die Verpflegung ist Sache der Teilnehmer. Schlag 24 Uhr brechen sie auf zu den ersten 100 Kilometern von Biel. Man schreibt das Jahr 1959. 22 Läufer kommen im Ziel in Madretsch an, der Erste nach 13:45 Stunden.
Trotz des Erfolges, eines wussten die Organisatoren damals nicht: sie haben die Laufwelt verändert. Nichts ist in der Szene danach, wie es vorher war. Man hat in Biel einen Zeitsprung gemacht. Man hat eine Laufgattung erfunden, die dort beginnt, wo der Marathon aufhört – obwohl es den Marathon, wie wir ihn heute kennen, 1959 gar nicht gibt. 1962, in Deutschland und anderswo wird darüber diskutiert, ob Laufen für Frauen schädlich ist, laufen diese in Biel schon die 100 km. Der Bieler 100er ist die Mutter aller Ultraläufe, mehr noch, Vorbild für alle Abenteuer- und Extremläufe in Europa und vielleicht weltweit. Über 120.000 Läuferinnen und Läufer waren in Biel bisher am Start, mancher von ihnen hat die Idee übernommen und weitergetragen.
Sonntag's Lauf
Wesentlich zur Popularisierung der 100 km von Biel hat ein kleiner, unscheinbarer Mann aus Deutschland beigetragen. 1972 schreibt sich Werner Sonntag in die Meldeliste ein. Sechs Jahre vorher gaben Ärzte dem Journalisten den Rat, etwas Sport zu treiben, am besten sei laufen. 1968 läuft er seinen ersten Marathon, dann die 100 km. Werner Sonntag ist fasziniert und infiziert. Biel lässt ihn nicht los. 1978 schreibt er das Buch „Irgendwann musst du nach Biel“. Der Buchtitel ist in Läuferkreisen mindestens genauso bekannt, wie in Fußballerkreisen Sepp Herberger’s „Der Ball ist rund.“ Wenn Biel die Mutter aller Ultraläufe ist, ist Werner Sonntag’s Bestseller die Mutter aller Laufbücher. Was er damit für Biel und für den Laufsport insgesamt beigetragen hat, kann keiner ermessen.
Auch ich gehöre zu denen, die Werner Sonntag „missioniert“ hat. Ich war in den 80er Jahren jedes Wochenende auf Volksmärschen unterwegs. Marathon, 50 km, 100 km, alles kein Problem. Wettkämpfe mit Zeitnahme waren aber nicht so mein Ding. Ich hatte da noch andere Interessen. Für einen Marathon zum Beispiel brauchte ich eine Schachtel Marlboro, für einen 100er zwei. Allerdings entdeckten viele meiner Kumpels den Bieler 100er und dann gab es ja auch noch den Mann, der behauptete: „Irgendwann musst du nach Biel.“ 1986 gab ich dem Ruf nach und bin nach Biel. Nach 18 Stunden und 11 Minuten marschierte ich durchgefroren und völlig durchnässt ins Ziel. Ich war begeistert und mir gleichzeitig aber sicher, in diesem Leben komme ich hierher nicht zurück. Es sei denn, es passiert ein Wunder und ich mutiere zum Läufer.
16 Jahre später passierte so etwas wie ein Wunder. 2002 LIEF ich in Berlin meinen ersten Marathon. Von da an war klar, Biel ist mein nächstes Ziel. Schon im folgenden Jahr hatte ich mein zweites Debüt. Ohne „Dampf“ schaffte ich die Strecke in „nur“ 14:49 Stunden.
Den Jubi-100er als Zuschauer
Zum Jubiläum sollte eine neue Bestzeit her. Aber daraus wird nichts. Meine Verletzung ist hartnäckig und (über)fordert meine Geduld. Wenigstens am Streckenrand will ich dabei sein, Freunde treffen und Atmosphäre schnuppern. Die Meldezahlen sind fast so hoch wie in alten Zeiten, als über 4000 Teilnehmer auf die 100 km lange Strecke gingen. Man spricht dieses Jahr zwar von einem Melderekord, aber in der propagierten Zahl von über 5000 sind alle Disziplinen enthalten. Den 100er wollen 2941 unter die Füße nehmen. Das sind immer noch mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr.
Entsprechend sieht es auf dem Gelände rund um die Eissporthalle aus. Schon am frühen Nachmittag ist fast alles zugeparkt. Auf den ausgewiesen Flächen steht Zelt an Zelt, Wohnwagen an Wohnwagen und bei der Startnummernausgabe und vor den Nudeltöpfen kommt es zu erheblichen Wartezeiten.
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© marathon4you.de | 6 Bilder |
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Derweil laufen in Aarberg ( km 20) die letzten Vorbereitungen. Getränke, Obst und Riegel werden portioniert und auf den Tischen ausgebreitet. Auf dem Stadtplatz mit der Kirche und dem Amthaus versammeln sich immer mehr Menschen, um die Läufer in Empfang zu nehmen. Die Holzbrücke von Aarberg hat sich zu etwas wie einem Wahrzeichen des Bieler 100er entwickelt. Es ist schon ein tolles Bild, wenn die Läufer über die Brücke durch das Zuschauerspalier laufen. Und man sieht es ihnen an, sie genießen den Applaus.
Über Lyss geht es nach Oberramsern, einem kleinen Ort, den man mit dem Auto heute Nacht nur über große Umwege erreicht. Hier ist Wechselzone und das Marathonziel. Man kann sich nicht vorstellen, was sich rund um den Ort abspielt. Kilometerlang stehen die Autos entlang der Zufahrtstraßen und Feldwege. Wenden unmöglich. Wer in die falsche Richtung eingeparkt hat, muss warten, bis es irgendwann Platz gibt. Auch hier ist die Verpflegungsstelle dicht umlagert, die Helferinnen und Helfer kommen kaum nach. Zusätzlich müssen hier die offiziell zugelassenen Fahrradbegleiter versorgt werden. Zum Glück steigen die meisten zum Essenfassen von ihren Rädern ab.
Einerseits ist es eine tolle Sache, als Läufer einen Coach zur Seite zu haben, vor allem in der Nacht. Andererseits, wenn so viele davon Gebrauch machen wie hier in Biel, wird es für die Läufer teilweise schwierig. Vielleicht sollte man die Fahrradbegleiter erst ab Oberramsern zulassen. Dann sind die Marathonläufer von der Strecke und das Feld hat sich mehr auseinander gezogen.
Mülchi, Etzelkofen und Jegensdorf heißen die nächsten Orte. Dann kommt Kirchberg (km 56), großer Verpflegungsposten, Massagestation und Kleiderdepot. Es geht zu, wie auf einer Kirmes. Die Helfer können Zuschauer, Läufer und Fahrradbegleiter nicht mehr trennen. Alles wuselt durcheinander. Manch ein müder Läufer kommt mir richtig glücklich vor, mit einem Stückchen Banane und einem Becher Wasser dem Chaos entronnen zu sein. Die nächsten 11 Kilometer auf dem Emmedamm (mit dem legendären Ho-Chi-Minh-Pfad) bis Gerlafingen sind für die Fahrradbegleiter gesperrt. Gott sei Dank, mag sich mancher denken.
Es dämmert, die Läufer kommen über Lüterkofen und Ichertswil zum kleinen Verpflegungsposten in Bibern (km 77). Stressfrei wird die Nahrungsaufnahme erledigt. Man hat Zeit. 23 Kilometer weiter, in Biel, läuft gerade Helmut Dehaut ins Ziel (7:32 Stunden) und wird von Matthias Dippacher aus Heroldsbach erwartet, der rund 4 Minuten schneller ist. Seit sage und schreibe 38:48 Minuten ist allerdings schon Walter Jenni im Ziel, er gewinnt in 6:49:43,9 den Jubiläums-100er von Biel. Es ist noch nicht 6.00 Uhr, da hat Sonja Knöpfli als erste Frau die 100 Kilometer geschafft (7:54:51).
Es geht im Zickzack durch eine Großbaustelle und dann auf einem Feldweg zur Eissporthalle. Hier stehen die ersten Zuschauer Spalier und empfangen die Helden. Die Zuschauerdichte nimmt zu, es wird immer lauter. Alle Läuferinnen und Läufer werden namentlich genannt und die Zahl ihrer Teilnahmen verkündet. Den meisten ist die Anstrengung nicht anzusehen. Die Freude und der Triumph überdecken die Strapazen und die Müdigkeit. Man sieht es jedem und jeder an: Heute ist ein besonderer Tag.
Jürgen Zettler, der seine Zeit (9:59) geträumt hat, schafft seine ersten 100 km in 10:48 Stunden. Er hat bei seinem Traum wohl was verpasst. Neben der Zeit stand das 90km-Schild. Kommt also hin, Jürgen.
Andrea Titze-Schmalfuß kommt ebenfalls gesund ins Ziel, ihre Zeit 13:39 Stunden. Schneller als der Sieger beim ersten 100er von Biel, Respekt. Klaus Sobirey finisht in 11:57, Dieter Beierlein schafft sogar eine 10:32. Den Vogel schießt aber die Jüngste ab: Mareile läuft sagenhafte 9:44 Stunden und wird bei ihrem ersten 100er gleich ganz überlegen Siegerin in ihrer Altergruppe (W20). Was sagt man dazu?
Kein Debütant, eher schon ein alter Hase ist Joey Kelly. Seine Zeit: 9:42! Kein Promi, kein Rekordler aber dennoch eine Erwähnung wert: Karlheinz Kobus läuft zum 26. Mal in Biel ins Ziel. Als 16jähriger feierte er sein Debüt und ist seither ununterbrochen dabei. Ihm und allen anderen, die diesen phantastischen Lauf erfolgreich beendet haben, gratuliere ich herzlich. Ganz besonders aber Werner Sonntag. Zum 33. Mal kommt er ins Ziel, mit 82 Jahren diesmal als ältester Teilnehmer. Nach 19:49 Stunden ist er noch lange nicht letzter. Ich ziehe zum zigten Male den Hut vor diesem Mann und frage mich: „Wann setzt man ihm in Biel ein Denkmal?
Sieger 100 km
Männer
1. Jenni Walter, CH Oberwil b. Büren - 6:49.43,9
2. Dippacher Matthias, D-Heroldsbach - 7:28.32,4
3. Dehaut Helmut, D-Wallhalben - 7:32.38,1
Frauen
1. Knöpfli Sonja, CH Winterthur - 7:54.51,0
2. Gross Martina, D-Kronberg - 8:16.15,9
3. Hooss Tanja, D-Ottweiler - 8:30.54,5
1. Jenni Walter, CH Oberwil b. Büren - 6:49.43,9
2. Kramer Markus, CH Meilen - 7:41.06,0
3. Pasadin Francisco, CH Orient - 7:45.04,1
Frauen
1. Knöpfli Sonja, CH Winterthur - 7:54.51,0
2. Danao Cecil. CH Oftringen - 9:27.16,5
3. Nusseck-Haller Daniela, CH Oberentfelden - 9:32.29,9
Marathonsieger
Männer
1. Löbel Yves, D-Niederndodeleben - 2:45.28,2
2. Müller Max W., CH Vilters - 2:50.02,1
3. Guillet Laurent, CH Marly - 2:52.19,6
Frauen
1. Dysli Caroline, CH Diessbach b. Büren - 3:23.50,2
2. Roulet Sandra, CH Malleray-Bévilard - 3:31.12,7
3. Furer Edith, CH Dotzigen - 3:40.03,2