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Laufberichte

Über den Dächern von Zermatt

 

Die Berge fordern jedes Jahr ihre Opfer. Auch mich hat es erwischt – ich bin besonders einem verfallen. Nur wegen ihm bin ich hier.

Schon die Anreise in die Alpenrepublik und das auf 1.600 Meter ü. M. liegende Zermatt beginnt mit der Erkenntnis, dass man sich von alten Gewohnheiten verabschieden darf. Ohne Vignette läuft nix, die Toiletten sind aber überall kostenfrei. Kandersteg, im Berner Oberland, gleicht einer Sackgasse und liegt im Talgrund, umrahmt von steilen teils noch schneebedeckten Felsflanken.

Seit 1913 gibt es in Kandersteg den Lötschbergtunnel. Er gilt als einer der wichtigsten Schienenverbindungen der Alpen.  Für 27,00 CHF werden wir samt Fahrzeug gerüttelt und geschüttelt. Die Bahnfahrt ist nostalgisch und erspart den Autofahrern 160 Kilometer Landstraße bzw. 2,5 Stunden Zeit. Die rumplige und quietschende Fahrt ins Licht dauert nur zehn Minuten. Länger braucht der Zug nicht, um die Kohlensäure aus der Cola zu schütteln und uns tiefer in die Bergwelt zu transportieren.


„Willkommen im Wallis“


Fünfzig Kilometer und einige Tunnel später ist in dem Ort Täsch aber endgültig Schluss mit Autofahren – weiter geht’s nun wirklich nicht. Von hier aus heißt es Gepäck schultern und umsteigen in den Zug. Keine zwölf Minuten später stehen meine Tochter Natascha, ihr Freund Christian und ich am Freitagnachmittag mitten im Gewusel von Zermatt. Das Bergsteiger- und Skifahrerdorf ist rot- weiß beflaggt.

„Vorsicht!“, wieder surrt eines der Elektrotaxis mit der Aufschrift „Tag und Nacht“ daher, deren Fahrer sich scheinbar einen Spaß daraus machen, zackig und mit engen Kurven um die Touristen zu fahren. Die schmalen Straßen in dem Matterhorndorf sind zwar auto-, damit aber nicht verkehrsfrei. Elektrotaxis, Hotelshuttlecars und einige wenige Pferdekutschen befördern die Gäste von A nach B. Ein Zermatt-Marathon-Plakat ist groß über die Hauptstraße gespannt.

Gleich neben dem Bahnhof befindet sich ein großes weißes Festzelt, an seiner Außenseite ein weiteres Plakat. Durchweg lese ich den gleichen Spruch: „…am schönsten Berg der Welt“. Das ist nicht als Versprechen gemeint, sondern als Herausforderung: Eine Werbung für den Zermatt Marathon. Irgendwo hier zwischen den unzähligen Souvenirläden, der bekannten Hamburgerkette im Alpenstyle und Juweliergeschäften mit Armbanduhren weit über fünfzigtausend Euro das Stück finden wir kurz darauf in einer Seitenstraße unser Hotel. Das Rot der Geranien ist auch hier die bestimmende Farbe, wie an den vielen Balkonen der Holzhäuser. Fast könnte man glauben, sie seien in bergesnähe Pflicht; viele Gebäude stehen unter Denkmalschutz.  


Noch ein Schokoladenpudding mit Sahnehaube und ab ins Bett. Ich lese noch, dass sich in Europa über sechsundsiebzig Viertausender erheben- die Hälfte davon rund um Zermatt. Schon 1902 ist Bergsteigen zur Modesache geworden, noch heute kommen jährlich etwa 4.000 Bergsteiger und noch mehr Skiläufer. Das einstige Bergbauerndorf zählt zu einem der exklusivsten Skiorte der Welt. Wer den Ultra-Marathon in Zermatt bucht und den weiten Weg auf sich nimmt, der will aber das Matterhorn mit eigenen Augen sehen und erleben, denke ich. Auch ich bin hier - nur wegen ihm, dieser überspitzten Pyramide, die genauso aussieht, wie ein perfekter Berg aussehen muss: Ein dreieckiger Zacken, der spitz in den Sonnenauf- oder Untergang ragt und ganz zart an seiner Spitze leuchtet. Er ist mit 4478 Metern Höhe nur der siebthöchste Gipfel der Alpen, aber freilich einer der berühmtesten Berge.

Schnell schlafe ich ein. Mein Herz klopft heftig, von der Höhe oder vor Aufregung? Ich träume von einem Foto mit mir vor dem Toblerone-Matterhorn, ein Klecks frisch geschlagener Sahne auf seinem Haupt. Traumbilder, die nicht aus dem Kopf wollen - doch Träume sind unzuverlässige Führer. Das zeigt sich an diesem Morgen. Als ich nach dem Frühstück zum Bahnhof laufe, sind die Berge und auch das Matterhorn noch im Nebel.


Deutsch-österreichische Liaison


Natascha und Christian haben noch Zeit, denn der Halbmarathon mit Start in Zermatt beginnt erst um 10:25 Uhr. Der Zug zum Start für die Marathon und Ultramarathonläufer fährt bereits um 7:10 Uhr. Das ist wohl die begehrteste Uhrzeit für die meisten Läufer, denn es ist eng im Gang vor den vollbesetzten Abteilen. "Nicht mehr weit. Eins-, zwei  Stationen vielleicht noch", sagt Klaus, der mit mir zum Start fährt für Spitzenfotografie.

Kurz darauf hält der Zug in Täsch. Weitere Mitreisende steigen ein, drücken sich zu uns. Herzhaft lachen wir über den Zufall. Es sind Angelika, Eberhard und Jutta. Der Zug fährt an, wir merken es nicht. Sind schon vollkommen in Geschichten und Erlebnisse vertieft. „2003 habe ich beim Zermatt Marathon Eberhard kennengelernt, wir sind zusammen gelaufen, er war mein erster Autor“, erzählt Klaus. "Ob ich das Matterhorn heute überhaupt zu sehen bekomme?", klage ich. Diesen Sommer wollen Angelika und ich gemeinsam mit einem befreundeten Bergführer unseren ersten Viertausender besteigen. „Dazu haben wir uns das 4.164 Meter hohe Breithorn ausgesucht, welcher als nicht zu schwer gilt“, freut sich Eberhard.

„Ich war schon auf dem Matterhorn!“, plaudert Jutta und schmunzelt dabei. Was? Der Berg, von dem die „NZZ am Sonntag" schrieb: „Das Matterhorn ist der Berg, den Bergsteiger belächeln und von dem die anderen reihenweise runterfallen". Der Berg, der mehr Opfer gefordert haben soll, als jeder andere Berg der Welt?  Das Matterhorn ist nicht nur schön, es gilt als einer der schwierigsten zu besteigenden Berge der Alpen. Er wurde erst vor 149 Jahren, übrigens als letzter aller Viertausender der Alpen, bestiegen und auch die Erstbesteigung endete mit einer Tragödie. Jutta strahlt und erzählt weiter. „Wir mussten biwakieren, keiner durfte einschlafen, es war so kalt.“ Ihr Begleiter war ein junger Bergsteiger aus Österreich, kannte sich aus in den Bergen. Ein Jahr später heiratete Jutta diesen Bergführer. Jutta, geboren 1938 (!) läuft besonders gerne anspruchsvolle Marathons und Ultras, bevorzugt in den Bergen, demnächst am Eiger - ihr Mann Josef begleitet sie überall hin. Plötzlich wird die Zugtüre geöffnet.


Kilometer 0 bis 21,1 Kilometer (ca. 600 Höhenmeter)

 

St. Niklaus liegt im tiefsten Tal der Schweiz. Die Bewohner wollten immer schon weiter hoch hinaus. So gehört der Ort zur Geburtsstätte des Alpinismus und verfügt über eine lange Tradition von sogenannten Berggängern. Heute wimmelt der blumengeschmückte Ort nur so von Sportlern.  „Hey Urs, gehst du heute Skifahren, gestern ist Neuschnee gefallen!“, scherzt Anni. Zumindest steht Anni auf ihrer Startnummer. Urs hat etwas anderes vor. Etwa 1.400 glückliche Sportler aus 43 Nationen warten auf den Startschuss. Der Andrang für eine Startnummer zum Ultra-Marathon war groß, bereits im März waren die 600 Startnummern restlos ausverkauft. Auch für den neu hinzugefügten Halbmarathon waren die Startnummern innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.

Die Sportler stehen hier, warten aber weder auf die Gornergratbahn noch auf die nächstbeste Gondel. Nach Skilaufen sieht im Moment nun wirklich keiner aus, auch wenn der ein- oder andere für die heutige Temperatur vielleicht doch ein wenig zu warm angezogen ist. Einige stellen die bemalte athletische Muskulatur zur Schau, andere lassen einen Bauch erkennen. Finisher-Shirts werden gemustert, anerkennende wie kritische Blicke getauscht. Die Individualität lässt sich besonders an der Farbe der Startnummer ablesen. Blau ist die Farbe der Marathonläufer, rot

die der Ultra-Marathonläufer. Staffelläufer tragen die Farbe grün auf der Nummer.
Offenkundig gilt: Ganz vorne stehen die Profi- und Modelathleten. Sie starten fünf Minuten vor dem Hauptfeld.  Patrick Wieser, der amtierende Schweizer Meister (2:18 Stunden beim Zürich Marathon) und zweimaliger Gewinner des Zermatt Marathon ist zur Enttäuschung vieler leider nicht am Start. Rippenprellungen zwingen ihn zur Absage. Je weiter die Zeit vorrückt, umso mehr überträgt sich die Nervosität auf jeden Einzelnen.  Ich treffe auf den 80-jährigen Roland. Ich erkläre ihm, wie beeindruckt ich von seiner Leistung vor drei Wochen in Liechtenstein war, als er mich bei Kilometer dreißig im Anstieg locker überholte. Uns alle hier verbindet die Liebe zu den Bergen und das Ausloten der eigenen Grenzen. Die Berge unterscheiden nicht zwischen Profis und Amateuren, nicht zwischen Jung und Alt.

 
 

 
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