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Laufberichte

Breslau Marathon: Blick nach Westen

15.09.13
Autor: Joe Kelbel

Nur wenige Deutsche können Schlesien auf der Landkarte finden oder haben Ahnung von 700 Jahren deutscher Geschichte, die sich in den Grenzen des heutigen Polens abgespielt hat.

Als ich ´85 das erste Mal in Breslau war, gab es die Staatsdoktrin, alles Deutsche zu verdrängen. Mein Vater musste seinen Geburtsort im Reisepass auf Wroclaw ändern, um überhaupt einreisen zu dürfen. Heute lacht man, wenn ich Breslau sage, dann verbessere ich mich auf Wroclove.  Das Bier bestelle ich auf polnisch, das Essen auf deutsch.

Die sprachliche Entspannung ist Folge der politischen. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus kam die Wende und das Interesse der Neuschlesier am Alten.

Zunächst machte ich mir keine Gedanken, als immer mehr Polen bei ebay jeden Preis für Vorkriegspostkarten und -dokumente zahlten. Bei einem Bild meines Vaterhauses bat ich Marcin, sein Gebot zurückzunehmen und mir den Vortritt zu lassen. Wir schreiben uns nun seit Jahren.

Wenn ich jetzt wieder auf dem riesigen Marktplatz (Rynek=Ring) in Breslau bei einem Tyskie sitze, den Künstlern, Zauberern, Gauklern und Mädchen nachschaue, dann ist das kein Vergleich zu damals, als Vodkaleichen den Platz mit seinen kriegsbedingten Baulücken dominierten und nur ein paar deutsche Rentner in den Schweidnitzer Keller unter dem Rathaus für ein Bier huschten, dort wo Studenten das erste Mal „Gaudeamus igitur“ (Brahms) anstimmten.

Läuft man den Marathon in Breslau, hat man zwar noch einiges an postkommunistischer Tristess zu erleiden: zugige, breiten Aufmarschalleen mit ihren riesigen Reklametafeln und klapprigen Straßenbahnschienen samt Kruppschem Stempel, dahinter Schuttberge und Plattenbauten. Man muss sich Breslau erst verdienen, dann kommen die Bilderbuch- Neubaugebiete mit geleckten Straßen, dann die Oderinseln, auf denen  man die warme Herbstsonne mit blanker Haut aufsaugt, und dann das Zentrum, das durch die Oder und ihren zahlreichen Armen und Kanäle eingefasst ist. Dort pulsiert  glückliches Leben unter alt-schlesischen Häusern und alles ist gut.

Breslau ist eine junge Stadt, sehr viele Studenten (140.000 in allen Hochschulen) mit Blick nach Westen, nicht gerade polnische Idealbürger mit ihrer Vorstellung einer Autonomie für ihr Schlesien (Slask). Es ist eine Großstadt, die westlicher als Dresden ist, keine separatistische Einstellung gegen Polen oder gegen Deutschland, man hat seine eigene Identität, lebt bewusst mit dem übernommenen kulturellen Erbe und ist schlesischer Nationalität.

Oft sagt man mir: “Wir sind Schlesier!” Worauf ich ein lautes “Pjerunie” rufe, mit “a” am Ende, so wie es mein Großvater immer rief, wenn er ein Schnapsglas leerte und sich danach schüttelte.

Anreise: Wizz-air fliegt für 80 Euro hin und zurück.
Flughafentransfer:   Taxi 12 Euro, Bus 2 Euro
Hostel direkt am Rynek ab 5 Euro, Hotel ab 30 Euro.
Startgeld: 23 Euro

Die Startnummernausgabe ist Freitag- bis Sonntag, kurz vor dem Start im Olympiastadion, ab Zentrum Straßenbahn 9, Bus 145, oder ab Flughafen Bus 406. Die Übernachtung (200 Plätze) in der Sporthalle kann vor Ort beim Sekretariat gebucht werden. Dort auch Anmeldung für den Start, da online auch beim 31. Marathon nicht easy.

Ach so: “Easy”. Ich spreche hier englisch und warte, bis die Gegenseite gerne ins Deutsche wechselt.

Ungezählte bronzene Zwerge sind in der Innenstadt zu entdecken. Es macht richtig Spaß an jeder Ecke die Kunstwerke zu entdecken. Auch im Rahmen des Marathons gibt es einen Zwergenlauf. Sie symbolisieren den Aufstand der Zwerge (Solidarnosz) gegen die Großen, die Kommunisten. Erinnerungen daran, dass Breslau als Stadt der Erneuerung sich gleich mit der Solidarnosz verbündet hatte.

Ich habe mich lange gefreut, in der Heimatstadt meines Vaters zu laufen, doch mich hat die Beinpest erwischt, erspare mir die Fahrt zur Startnummernausgabe im Olympiastadion, es sind ohnehin nur etwa 10 deutsche Läufer auf der 4000 Läufer zählenden Starterliste, niemanden, den ich kennen würde.

Mein Appartement (40 Euro) ist direkt am Ratusz (Rathaus), die astronomischen Uhr (1580) hält mich nachts wach, darunter der Schweidnitzer Keller (Piwnica Swidnicka).

Anlässlich der Reichswahl 1429 hielt sich Kaiser Sigismund inkognito in diesem Keller auf. Was er dort vom Volk über sich hörte, veranlasste ihn, einen Spruch in die Tischplatte zu ritzen - 1945 verschwunden, ist nun als Replik zu sehen.

Hier ist der Mittelpunkt Breslaus, der Ring (Rynek), der Marktplatz aus dem 13. Jahrhundert. Einige Häuser haben den Krieg überstanden, andere wurden rekonstruiert. Hier herrscht reges Treiben. Künstler, Krishna Anhänger und Feuerschlucker ziehen von Kneipe zu Kneipe, vor denen die Gäste sitzen und das Programm genießen. Zum Bier gibt es Schmalzbrote, auf den Pirogen lockt der Speck, und die Rindsrouladen sind ein Traum.

Heute Abend ist auf dem Rynek Riesenparty, veranstaltet von Radio Zet. Fast sämtliche Studenten sind versammelt. Im Keller des Brauhauses Spiz (klasse der Name, 15. Jahrh) ist Mädchenüberschuss. Agneszia und Gosia kommen zum Frankfurt Marathon, morgen beginnen sie mit dem Training.

Start Sonntag 9 Uhr im Olympiastadion.

Breslau liegt auf 12 Inseln, geteilt durch Flüsse und zahlreiche Kanäle. Es gibt 100 bis 300 Brücken in Breslau, über wie viele Brücken die Marathonstrecke führt, kann ich nicht sagen. Ist mir auch egal, ich humpel hinunter auf den Rynek, erwarte die ersten Läufer bei km 37, die direkt vom Salzmarkt hochkommen. Heutzutage verkauft man hier Blumen, 24 Std lang.

Dann humpel ich nach Norden, Richtung Oder, es ist der Schulweg der Väter Mücke und Kelbel zum Matthiasgymnasium. Ob der Vater vom Dietmar, alias Pumuckl damals auch barfuß lief, ist nicht überliefert und ich kann nicht sagen, wer wen verkloppt hat. Vermutlich war Papa Mücke schneller.

Die Väter Mücke und Kelbel mussten durch das schmiedeeiserne Tor von der Oderseite (ehem. Schuhbrücke) hinein in das Matthiasgymnasium, wo beide Abi gemacht haben. Gegenüber war das Mädchengymnasium. Lustig, dass gerade hier die Mädchen jetzt Zuckerstückchen verteilen.

Abstecher in das Unigelände:  Beim Fechterbrunnen Aufgang zur Leopoldaula. Der Fechter war ein Spieler, hat sämtliche Kleider verspielt. Dann noch schnell ins Auditorium und in die wunderschöne Unikirche, dann zurück auf die Marathonstrecke.

Rechts die Markthalle, die mein Urgroßvater als Bürgermeister bauen ließ, morgen werde ich dort die mit Knoblauch eingelegten Dillgurken kaufen.  Mein Urgroßvater machte damals auch die Finanzierung für die Jahrhunderthalle. Aber der Kaiser hatte wenig Interesse, sich daran zu beteiligen.

Auch der Marathon wird hauptsächlich von der Stadt finanziert. Viel ist nicht los entlang der Strecke, es überwiegt absolute Ruhe, sämtliche Straßenbahnen stehen für den Marathon still. Kaum Zuschauer. Nicht die Laufstrecke ist interessant, sondern das Leben. Weiter begleite ich die Läufer über die Most Piaskowy (Piastenbrücke/ Sandbrücke) über den Oderarm.

Rechts die Kirche St Maria auf dem Sande ( Kosciola Najswietszej Marii Panny na Piasku), wo ich schnell hineinhusche und ein Foto schieße. Die Kirche ist (mit alten Steinen) komplett neu gebaut worden, denn das Gebäude davor war die Kommandantur (Festung Breslau). Die Stalinorgeln haben hier ganze Arbeit geleistet.

Links die evangelische Theologische Schule, dann geht es über die Mosty Mlyiskie (Gneisenauer Brücke). Schönes Foto der Läufer vor der (verschandelten) Mühle auf der Sandinsel.

Ich verabschiede mich von den Läufern (km 38), gehe über die Most Tumski (Dombrücke), die mit dicken, verrosteten  Liebesschlössern behängt ist und besichtige den Dom. Dahinter ist die Kaiserbrücke zu erkennen (jetzt Grunwalski), dort ließ Kommandant Hahn die Häuser abreißen, um eine Landebahn zu bauen.

1 km Marathonstrecke und eigentlich noch viel zu erzählen. „Schnell“ nehme ich die Kurve, schleppe mich zur Mensa und bestelle mir eine dicke Haxe in brauner Biersosse, 100 g für 2,7 Sloty. Wie steht es im Reiseführer: „ Nothing bad will happen to you in Wroclaw, exept overeating!“

Es ist schwer, Abschied von Schlesien zu nehmen, sehr schwer. Maria Theresia weinte bitterliche Tränen, als sie ihr Liebstes an Preußen abtreten musste. Ich kann es verstehen. Rozumiem.

 


 
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