Wir verwenden Cookies um Ihnen eine bestmögliche Nutzererfahrung auf unseren Websites zu bieten. Mit der Nutzung unserer Seiten und Services erklären Sie sich damit einverstanden. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

OK

marathon4you.de

 

Laufberichte

Schön, wenn es diesen Lauf nicht geben müsste

 
Autor: Joe Kelbel

Zunächst mauerte Moskau: Chruschtschow wollte durch den Bau einer Mauer in Berlin nicht die Ost-West-Spannungen vergrößern. Seit 1953 forderte Ulbricht die Erlaubnis aus Moskau an, die Berliner Sektorengrenzen zu schließen. Die Sowjets befahlen Ulbricht stattdessen, seinen scharfen sozialistischen Kurs abzumildern. Das geht aus den Prozeßakten gegen Egon Krenz hervor. Am 10.August 1961 fand jene denkwürdige Pressekonferenz statt, in der die Journalistin Annamarie Doherr diese Frage stellte:

„Ich möchte eine Zusatzfrage stellen. Doherr, Frankfurter Rundschau: Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“

Ulbricht antwortete:

 „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird, voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“

Es war das erste Mal, daß der Begriff „Mauer“ fiel.  

Als wir noch drei Fernsehprogramme hatten, da gab es Berichte über Tote an der Mauer in der Tageschau. Meine Großeltern reagierten heftig, meine Eltern eher mit einem „schon wieder“. Ich gar nicht, obwohl ich wußte, daß meine Großeltern und Eltern nach der Vertreibung dann auch noch aus der SBZ fliehen mussten.

Heute also ist es auf den Tag genau 55 Jahre her, da begannen 15.000 bewaffnete Einheiten, dann doch mit Rückendeckung der sowjetischen Truppen die Mauer um die Westsektoren zu bauen. Es begann die Gefangenschaft von 17 Millionen Deutschen.

Die Sektoren wurden schon in der Konferenz von Jalta (1945) festgelegt und orientierten sich an den Grenzen von Groß-Berlin, die 1920 festgelegt wurden. Da Bürger aus Groß-Berlin auch Grundstücke im Umland hatten und Brandenburger Grundstücke in Berlin, entstanden Exklaven. Briten und Sowjets tauschten 1945 Teile dieser Exklaven, es blieben aber eigenartige Gebiete, die zur Flucht regelrecht einluden.

 

 

Jedes Jahr wird der Mauerweglauf einem Maueropfer gewidmet, es kann also noch lange gelaufen werden. Dieses Jahr gedenken wir  Karl-Heinz Kube (gestorben am  16.12.66  mit 17 Jahren) er hörte gerne Westmusik: „Beiß nicht gern in jeden Apfel“, „Frag nur dein Herz“ und natürlich Peter Kraus: „Wenn Teenager träumen“. Sowas war nicht erwünscht in der DDR, er wollte nach Westberlin.

 „Ihr Sohn hat sich provokatorisch an einem Grenzdurchbruch beteiligt, wurde dabei verletzt und ist seinen Verletzungen erlegen.“  So steht es in der Todesmitteilung an die Eltern.

Entlang der 100 Meilen gibt es Gedenkstelen für die Ermordeten, manchmal mit Bildern, manchmal gibt es keine Bilder. Das liegt daran, daß die DDR-Behörden die Existenz von Mauertoten leugnete und Fotos und persönlichen Gegenstände umgehend „beschlagnahmte“.

 

13. August 2016, 6 Uhr

 

Am Prenzlauer Berg gibt es preiswerte Unterkünfte. Von hier aus sind es wenige Meter zum Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Nach Turnvater Jahn benannt, denn die DDR  sah sich in preussischer Nachfolge im Kampf gegen die napoleonische Besetzung Deutschlands. Der Westen dagegen lobt die Errungenschaften der napoleonischen Eroberungszüge.

Ich werde von einer Gruppe Nachtschwärmer gelobt: „Oh sexy Höschen!“ – „Ja. Ich muss die nächste zwei Tage viel laufen!“- „Oh! Mauerweg? Alle Achtung!“  Lothar Fritz Freie, ein Westberliner, ging ohne Hemd diese Straße entlang. Nach Anruf durch einen Posten drehte er um und wurde erschossen. Auf dem Bürgersteig hier starb Heinz Cyrus, als die Grenzer das Haus umstellten und er versuchte, über das Dach zu flüchten.

 

 

Direkt an der westlichen Seite des Jahnstadions war die Mauer. 1962 kam die zweite, die sogenannte Hinterlandmauer dazu, dazwischen und davor gab es den Signalzaun, die Kfz-Sperren, die Wachtürme, die Hundelaufleinen, den Kontrollstreifen und den Postenweg.

Ich hatte noch keinen Kaffee,  der Schweiß läuft trotzdem. Bei so einem großen Lauf stört mich jede Gesprächsanbahnung, ich brauche Konzentration. Jede fehlende Creme, jedes fehlende Kleidungstück, den Fotoaparat oder die Wechselsocken, alles muss in vier Beutel verpackt, und abgegeben werden. Hoffentlich sind die Stirnlampe und die Sicherheitsweste im richtigen Beutel, hoffentlich brauche ich nicht vorher die Schuhe zu wechseln. Meine letzten vier Wettkämpfe waren nicht so besonders. Ich rechne nicht damit, morgen zu finishen.

Unspektakulärer Start, sehr langsam dreht der Troß aus 350 Einzelstarter eine Ehrenrunde durch das Leichtathletikstadion. Wir müssen leise sein, die Anwohner haben sich letztes Jahr beschwert. Es geht  aus dem Stadion hinaus, dahinter ist die beliebte Sonnenwiese, ein Hügel, aus Kriegstrümmern, einst guter Ort, um einen Tunnel zu bauen. 1988 tauschte die DDR diesen Hang gegen eine Bahnbrache und erhielt dafür 76 Millionen Mark. Jetzt konnten die Grenzer den Hang besser einsehen.

Wir kommen zur Bernauer Straße. Die südlichen Fenster (der Ostberliner Seite) wurden zunächst zugemauert. Wir kennen  die Bilder der Bewohner, die sich aus den Fenstern auf den Westberliner Bürgergersteig abseilten. Im Herbst 1961 wurden die Häuser zwangsgeräumt, 63 planiert. Die Fläche ist als Mahnmal geblieben, es ist eine Grünfläche, Stahlstreben markieren den Verlauf der Mauer.

Die Geschichten um Tunnel 29 und Tunnel 57 wurden verfilmt, wir gedenken Egon Schultz, und am Gedenkstein an der Swinemünder Straße weiteren 10 Opfern. Rudolf Urban stürzte tödlich bei seiner Flucht aus seiner Wohnung. Bernd Lünser stürzte beim Kampf mit Grenzsoldaten vom Dach.

Die Mauer machte nun einen scharfen Knick nach Westen. Westberliner fuhren mit Höchstgeschwingigkeit gegen diesen Winkel, verbanden ihren Freitod mit dem Protest gegen die Mauer.

Viele Mauertote gelten nicht als Maueropfer, auch nicht die  mindestens 251 Menschen, die bei den harten Grenzkontrollen an Herzinfarkt gestorben sind. Wer Verwandte in der DDR besuchen wollte, musste einen Zwangsumtausch mit  überhöhten Wechselkurs leisten. Die DDR verdiente damit 4,5 Milliarden DM.  

In dieser frühen Morgenstunde sind die Straßen relativ autofrei, wir riskieren trotzdem eine Disqualifikation, wenn wir bei Rot über die Ampel laufen. Km 4, alle 500 Meter gab es einen Mauertoten. Spandauer Kanal, Invalidenfriedhof, auf dem die Gefallenen der napoleonischen Befreiungskriege lagen. Uralte Grabsteine, die von der DDR Regierung eingeebnet wurden, um besseres Schußfeld zu haben.

Unter Tränen schilderte der von zig Schüssen getroffene und daher schwer behinderte Wilfried Tews 2002 in einem Interwiev, wie die Grenzer auf ihn geschoßen haben. Der Gefreite Peter Göring feuerte weiter, als Wilfried schon von Westberliner Polizisten aus dem Wasser gezogen wurde. Görig wurde von einem Querschläger tödlich getroffen. Noch manche Schule trägt seinen Namen, er gilt als Märtyrer der DDR: „Für den zuverlässigen Schutz der Staatsgrenze der DDR sein Leben gegeben.“ Sein Sarg wurde mit dem „Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Gold“ dekoriert.

Berücksichtigt haben die Gerichte nach der Wende den psychologischen Druck, der den Rekruten auferlegt wurde. Es gab Bewährungsstrafen.

Lutz Haberlandt wurde vor der Charité erschoßen.

Am Spreebogen ist die ehemalige Mauer sehr deutlich an den eingelassenen Pflastersteinen zu erkennen. Die dicken Stahlplanken unter der Kronprinzenbrücke sind keine Relikte aus der Zeit des Kalten Krieges, sie sollen die Touristenboote von den Stützpfeilern fernhalten. Elke Weckeiser wurde unter dieser Brücke erschoßen.

Touristen werden nie den Grusel der Mauer erleben, sie schauen auf die gläserne Beamtenlaufbahn, die Ost und West verbindet.  Auch sehen sie nicht die Gedenkstätte Weiße Kreuze, die am 13. August 1971 von den Bürgern als zentraler Gedenkort gestiftet wurde. Eingerichtet, weil die Pflege der Kreuze für jeden Mauertoten entlang der 100 Meilen nach 10 Jahren Mauer zu aufwändig wurde. Vor zwei Jahren wurden die Kreuze von „Aktionskünstlern“ entfernt und an den EU-Aussengrenzen aufgestellt, um auf die aktuelle Flüchtlingssituation aufmerksam zu machen. Gedenkstelen entlang des Mauerweges werden beschmiert.

Der Lauf unter dem Dach des Bundestages ist klasse. Paul-Löbe-Haus, so wird das Funktionsgebäude genannt, in denen die Abgeordenten ihre Büros und Sitzungssäle haben, die Fenster sind auffallend schmutzig. Paul Löbe war Reichtstagspräsident in der Weimarer Republik. Die Mauer war hinter dem Reichstagsgebäude, dort starb Ingo Krüger bei einem Fluchtversuch, weil seine Tauchausrüstung defekt war. Manfred Gertzki wurde angeschoßen, ein Grenzer stieß ihn in die Spree, in der er mit seiner schweren, selbstgebauten kugelsicheren Weste sofort versank.

 

 

Wir laufen vor dem Reichstagsgebäude, dann weiter zum  Brandenburger Tor, das am Ende der Straße des 17. Juni liegt, benannt nach dem Datum des Volksaufstandes 1953 in der DDR. Vor dem Brandenburger Tor ist der Platz des 18. März, benannt nach dem Datum der Märzrevolution 1848 bei dem mehr als 100 Revolutionäre getötet wurden. Der 18. März erinnert auch an 1990, als die erste freie Wahl in der Volkskammer der DDR stattfand.

Mit einer Mauer aus duftendem Fichtenholz erinnern wir an den Fall der Mauer, jeder von uns Läufer trägt einen Mauerstein „nach drüben“. Andreas hat die ganze Nacht unsere kleine Mauer bewacht, er hat auch die vergangenen Nächte die 100 Meilen lange Laufstrecke markiert.
 
Das Brandenburger Tor war nicht zufällig die Grenze zwischen West und Ost, schon 1734 stand hier eine Mauer.  Sie diente der Erhebung von Handelszöllen. 18 sogenannte Akzisentore hatte Berlin. Ob Schlesisches Tor oder Hallesche Tor, alles waren Zollstationen. „Akzise“ war die damalige Mehrwertsteuer. Das Brandenburger Tor wurde zu Ehren Friedrichs des Großen in der jetzigen Form gebaut. Als Napoleon Berlin 1806 besetzte, sagte er: „Man würde nicht bis hierher gekommen sein, wenn Friedrich noch lebe.“ Dann nahm er die Quadriga vom Brandenburger Tor und entführte sie nach Paris. Die Quadriga ist der Streitwagen aus dem babylonischen Schöpfungsmythos. General Bücher trieb Napoleon nach der Völkerschlacht von Leipzig (1813) über den Rhein zurück nach Paris und brachte von dort die Quadriga zurück zum Brandenburger Tor.

Auf der Wihelmstraße konzentriere ich mich darauf, die Grünphasen der Ampeln zu erwischen. Ganz neu für mich ist das Panometer „The Wall“, eine Rotunde mit emotionalen Großbildflächen. Man sieht Betonmischer, Stacheldraht, Mauerreste und nette Studentinnen, die uns durch das Halbdunkel leiten. Leider habe ich keine Zeit und keine emotionale Kraft, um auf die fiktive Aussichtsplattform zu steigen, von der es den künstlichen Blick über die Spree gibt, wo Kinder beim Spielen an der Mauer ertranken.

Hinter dem Ausgang des Panometers ist der Checkpoint Charly. Die Namensgebung erfolgte durch die Amerikaner nach dem internationalen Alphabet. Checkpunkt Alpha war der wichtigste Grenzübergang Helmstedt-Marienborn an der innerdeutschen Grenze, weil es die kürzeste Verbindung nach Berlin war. Checkpoint Bravo war der Grenzkontrollpunkt Dreilinden Drewitz.

Die Geschichte, wie Flüchtlinge die Kanaldeckel direkt am Checkpoint hochhoben und rausstiegen, habe ich in einem meiner letzten Berichte erzählt. Die originellste Flucht aber gelang einem DDR-Bürger, der sich als Österreicher ausgab und angab zu seiner im Sterben liegenden Mutter nach West-Berlin zu müssen, vor Aufregung aber seinen Pass vergessen hätte. Ziemliches Durcheinander, aber plötzlich war der „Österreicher“ im Westen.

Der Checkpoint war mit Stacheldraht verbarrikadiert. Thomas Meyer ging einfach hin, schnitt sich drunter durch. 300 Schüsse feuerten die Grenzer auf ihn, bis ein US-Sergeant mit dem uramerikanischen Namen Hans-Werner Pool eine Tränengasgranate zu den Grenzern warf: „Lasst den Jungen los, er gehört uns!“  1,5 Jahre verbrachte Thomas Meyer anschließend im Krankenhaus. Burkhard Niering wollte locker mit einer Geisel über den Checkpoint. Er wurde erschoßen.

123
 
 

Informationen: 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)
Veranstalter-WebsiteE-MailErgebnislisteHotelangeboteOnlinewetterGoogle/Routenplaner
 
Das marathon4you.de Jahrbuch 2025
NEWS MAGAZIN bestellen